Spurensuche im Baltikum

Es war eine eindrucksvolle und lohnende Reise, zu der das Evangelische Dekanat Rheingau-Taunus für Anfang September eingeladen hatte. In neun Tagen durchquerten wir die drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland. Jeder dieser drei Staaten hat seine eigene Geschichte und seine eigene Sprache. Verbunden sind sie durch ihre geopolitische Lage, durch die prägenden Erfahrungen von Kriegen, von Fremdherrschaft und – ganz wichtig – durch ihre Kämpfe für Unabhängigkeit.

Wir sahen stolze Städte, mittelalterliche Burgen, alte Kirchen, sattes Moosgrün, viel Sand auf der Kurischen Nehrung und den blauen Himmel über der Ostsee. Lange hatte ich mir eine Reise in das Baltikum gewünscht. Mit Fragen nach der aktuellen Situation im Gepäck wollte ich erfahren, wie die Menschen dort denken und fühlen.

Jetzt bin ich immer noch dabei, die vielen frischen Eindrücke zu ordnen und zu verstehen. Das Baltikum grenzt an Russland, Polen, Belarus und wieder an Russland und über die Ostsee an Finnland. Die nahe Grenze zu Russland und Belarus – Vilnius ist gerade einmal 40 Kilometer von der Grenze entfernt – hat meinen Blick verändert. Der Krieg in der Ukraine ist mir sehr viel näher gerückt.

Vilnius, die Hauptstadt Litauens, begrüßt uns weitläufig und westlich-kosmopolitisch. Unser Ziel war die gut erhaltene und berühmte Altstadt. Auf holprigem Kopfsteinpflaster spürt man sofort viel Geschichte. Wir balancierten hoch zum zentralen Gediminas-Turm. Der weite Blick auf die Stadt bot eine erste Berührung mit einem zentralen Ereignis der Unabhängigkeit der baltischen Staaten: der Erinnerung an die Menschenkette von 1989.

Vilnius hat mich beeindruckt mit seinen gut erhaltenen Gebäuden, den Gässchen, den üppig blühenden Blumen, die sich um große Torbögen ranken, dem „litauischen“ Barock, der eindrucksvollen klassizistischen Kathedrale, die mit ihren dorischen Säulen fast wie ein Tempel wirkt, und dem Freiheitsplatz.

Die schon 1578 gegründete Universität ist nach Krakau die zweite im polnisch-litauischen Reich und damit eine der ältesten Universitäten Mitteleuropas. Und doch mutet sie sehr modern an. Viel zu wenig Zeit war zum Verweilen in ihren zwölf lauschigen Innenhöfen. Nicht nur am Abend ist die Altstadt voller Straßenmusik. Viele junge Leute sind unterwegs, es wird gesungen und gelacht. Vilnius wird das „Rom des Nordens“ genannt – wegen seiner vielen Kirchen. Das Gebiet des Großfürstentums Litauen reichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert von der Ostsee fast bis zum Schwarzen Meer. Durch die historische Nähe zu Polen ist Litauen katholisch geprägt. Die gegenreformatorischen Anstrengungen der Jesuiten haben ganze Arbeit geleistet: Protestanten spielen kaum eine Rolle.

Ich war gespannt auf das „Jerusalem des Nordens“, wie Vilnius von den jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der vielen Schtetl liebevoll genannt wurde. Jahrhundertelang war die Stadt ein Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Gelehrsamkeit. Unter Mithilfe von Einheimischen, die jahrhundertelang friedlich mit ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zusammengelebt hatten, ermordeten die Nationalsozialisten in nur vier Jahren im Holocaust fast alle Juden und Jüdinnen und löschten ihre Kultur aus.

Heute lebt wieder eine kleine jüdische Gemeinde in Vilnius. Wir hatten das Glück, in der einzigen – von einst hundert – erhaltenen Synagoge, der Choral-Synagoge, eine bewegende Führung von der Frau des Kantors zu erhalten. Als ihr Mann, der Kantor, dann seine Stimme erhob und ergreifend sang, war das ein tief berührender Moment.

Unfassbar viele Kreuze unterschiedlichster Art sind am sogenannten Berg der Kreuze im Norden Litauens bei Šiauliai aufgestellt. Zuerst fallen die großen Kreuze aus Holz oder Stein ins Auge, dann die vielen Holzkreuze unterschiedlicher Machart und Größe bis hin zu Rosenkränzen und kleinen Schmuckkreuzen. Mehrere Versuche, sie zu zählen, sind gescheitert – es sind weit über hunderttausend.

Viermal wurden die Kreuze in den 60er- und 70er-Jahren von Bulldozern niedergewalzt, doch immer wieder wurden über Nacht neue errichtet. Ein Ort tiefer Demut und Erinnerung an die Opfer dieses Landes und an die nationale Widerstandskraft der Litauer. Auch wir haben ein Holzkreuz aufgerichtet und im nahegelegenen Franziskanerkloster eine Andacht gefeiert.

In Riga, der lettischen Hauptstadt, haben mich die Jugendstilhäuser begeistert. Bisher hatte mich dieser Stil kaum ergriffen, aber hier habe ich ein Foto nach dem anderen gemacht. In der Altstadt gibt es jahrhundertealte Baukunst, verwinkelte Gässchen und den großen Platz mit dem größten Dom des Baltikums, berühmt für seine Walcker-Orgel. Nicht weit entfernt steht die Petrikirche, von deren Turm man einen grandiosen Blick über die Stadt hat. Die Kirche gehört zur lutherischen Gemeinde und ist deutsche Auslandsgemeinde. Lettland ist lutherisch geprägt, und deutsch-lutherische Einwanderer konnten sich in wechselnden Zeiten eine gewisse Eigenständigkeit bewahren.

Ein irritierender Wehmutstropfen ist jedoch, dass die lettisch-lutherische Kirche die Frauenordination 1993 ausgesetzt und 2016 den Pfarrdienst auf Männer beschränkt hat. Theologinnen kämpfen weiterhin um ihre Rechte. Viele erhalten nur über den Umweg einer Ordination durch die Evangelisch-Lutherische Kirche weltweit die Möglichkeit, als Pfarrerin zu arbeiten.

In den Straßen Rigas herrscht quirliges Leben, Geschäftigkeit und Freude. Das Okkupationsmuseum stellt die Geschichte des lettischen Volkes während der Besatzungszeit durch die Nazis und der Sowjetunion eindrücklich dar. Die sowjetische Vergangenheit bis zur Unabhängigkeit 1991 ist sehr präsent, wie uns unsere Reisebegleiterin erzählte. Wenige Schritte weiter steht der Freiheitsplatz mit dem Freiheitsdenkmal – ein zentraler Treffpunkt und Symbol nationaler Identität. An diesem Tag erlebten wir dort eine öffentliche Gelöbnisfeier: junge Männer in Uniform, lachend, posierend, stolz. Die Armee ist sichtbar und präsent.

Der Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit hat mich tief beeindruckt. Am 23. August 1989 reichte eine 650 Kilometer lange Menschenkette – der „Baltische Weg“ – von Tallinn über Riga bis Vilnius. Zwei Millionen Menschen hielten sich an den Händen und demonstrierten für die Unabhängigkeit. 1990 erklärten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit, 1991 folgte die internationale Anerkennung, 2004 der Beitritt zur NATO.

Tallinn ist eine höchst lebendige Stadt, in der sich Mittelalter und High-Tech verbinden. Estland ist europäischer Spitzenreiter der Digitalisierung. Besonders beeindruckend ist die gotische Altstadt und der Blick vom Domberg zur Ostsee. Nur 80 Kilometer sind es per Schiff bis Helsinki. Die Verbundenheit mit Finnland ist deutlich spürbar. In der Deutschen Erlösergemeinde feierten wir einen Gottesdienst mit – nach einer preußisch-lutherischen Agende aus dem vorletzten Jahrhundert, die uns sehr vertraut war. Im Anschluss ergaben sich wertvolle Gespräche, wie Begegnungen sie über Ländergrenzen hinweg möglich machen.

Unsere litauische Reiseleiterin berichtete eindrücklich, wie sehr die baltischen Länder die Menschen in der Ukraine unterstützen. Organisationen wie die „Blue-Yellow“-Initiative helfen mit Geld- und Sachspenden. Ärztinnen und Ärzte reisen in die Ukraine, ukrainische Soldaten erhalten Reha-Maßnahmen im Baltikum. Dieses Engagement wird nicht nur staatlich getragen, sondern gesellschaftlich: Jede und jeder hilft nach Vermögen – mit Spenden, Unterricht, Unterstützung im Alltag. „Man kann mit dieser Angst nicht leben“, sagte sie, „aber wir tun jeden Tag, was wir können.“

Das habe ich mitgenommen: Nicht Abwarten, Angst oder Resignation helfen weiter, sondern Zusammenstehen und beharrliches Handeln.