
Wenn ich an Aussagen evangelikaler Christinnen und Christen denke oder auch an päpstliche Verordnungen: Sex ist per se etwas Schlechtes, oder?
Nein, Sex ist nicht per se etwas Schlechtes. Sexualität beziehungsweise Sexualitäten gehören zum Menschsein dazu. Der Mensch ist nach Gottes Abbild geschaffen: gut, gewollt, geliebt und in seiner menschlichen Ganzheit gesegnet. Auch als sexuelles, lustempfindendes Wesen.
Wie hält es denn die evangelische Kirche in Deutschland mit dem Sprechen über Sexualität?
Lange wurde das Thema Sex oder Sexualitäten in der evangelischen Kirche, wie auch in der Gesellschaft insgesamt, tabuisiert. Mit Blick in die Kirchengeschichte wurden besonders weibliche Sexualität und nicht-heteronormative Formen von sexueller Orientierung oder Identitäten beschämt, unterdrückt oder gar verteufelt. Heute bemerke ich, dass zunehmend offener darüber gesprochen wird. Auch über weibliche Lust oder queeres Liebesleben.
Beim Sprechen über Sexualitäten geht es immer auch um Verantwortung, Konsens, Reproduktion, Bildung, Ausdruck, Lust, Identität und auch um sexualisierte Gewalt. Und es werden gesellschaftliche wie individuelle, aber auch politische, kirchliche und christliche Dimensionen berührt. Wir brauchen als Kirche dringend eine (neue) evangelische Sexualethik.
Die Bibel ist ein Buch voller Lebens- und Glaubensgeschichten. Welche Rolle spielt Sexualität, überhaupt Körperlichkeit?
In diesen Lebens- und Glaubensgeschichten der Bibel kommt auch das Thema Sexualität vor. Es geht in vielen Fällen um Reproduktion, meist mit patriarchalen, aber zum Teil auch mit Gewalt besetzten Verhaltensweisen. Es lassen sich aber auch homoerotische Spuren finden wie bei David und Jonathan, Dirty Talk wie im Hohelied, Sexarbeiter:innen oder eine Schwangerschaft, die die biologischen Vorgänge über Bord wirft.
Und doch unterscheiden sich die Lebensweisen der Menschen zu biblischen Zeiten von unserer heutigen Lebensrealität: zum Beispiel das heutige Eheverständnis, queere Lebensweisen oder die soziale und politische Gleichberechtigung der Geschlechter, Zugang zu Verhütungsmitteln und die Verbindung von Sexualität und Liebe. Die Bibel sollte deshalb in sexualethischen Fragen nicht als alleinige Ratgeberin herangezogen werden.
Frauen finden sich in der Bibel meist in Nebenrollen. Ausnahmen sind Eva – als die Sünderin – und Maria – die jungfräuliche Unschuld. Gibt es nicht „role models“ dazwischen?
Einmal gibt es auch andere, feministische Perspektiven auf Eva und auf Maria. Eva kann als erste Neinsagerin verstanden werden: Nein zum Verbot, Nein zu Adam und sogar ein Nein gegenüber Gott. Eva sehe ich als frei und selbstbestimmt. Bei Maria lässt sich die sozialkritische Dimension hervorheben, die sie im Magnifikat zeigt. Aber es gibt auch eine Reihe von Frauen in der Bibel, an die erinnert werden sollte: wie an die syrophönizische Frau, an Maria und Martha, an Judith, an Sara, an die Apostelin Junia und an all die Frauen ohne Namen. Doch es braucht nicht nur „role models“ in der Bibel, sondern auch Christ:innen in der Gegenwart, die uns Vorbilder sein können. Auf Social Media sind heutzutage viele Christ:innen zu finden, die lebensnah und echt über ihr Leben und ihren Glauben berichten.
Ist Gott in Ihren Augen männlich oder weiblich?
Ich würde sogar sagen: Gott* ist mehr als nur männlich oder nur weiblich, Gott ist queer. Wenn wir Gott als übergeschlechtlich verstehen, die Transformation auslösen kann, ist das ein Aspekt von Queerness. Das Grenzensprengende, Nicht-Greifbare, Unverfügbare, das Darüber-Hinaus-Gehende – das ist Gott für mich. Klingt superqueer, oder?
Masturbation ist keine Sünde, sagen Sie, und verweisen auf Hildegard von Bingen. Warum ausgerechnet auf sie?
In der feministischen Theologie wird Erotik als „sacred power“ verstanden. In der mittelalterlichen Spiritualität sind bei Mystikerinnen ekstatische Frömmigkeit und hingebende Verliebtheit verschmolzen. Auch wenn Hildegard von Bingen Masturbation zeitlebens anders verstanden hat als ich, war sie doch die Erste, die weibliche Lust anerkannt und ausgiebig den weiblichen Orgasmus beschrieben hat.
Sie sprechen offen über Ihren Glauben auf dem Instagram-Kanal „Ja und Amen“. Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „Nö. Anstiftung zum Neinsagen“. Ein Gegensatz zum Ja und Amen?
Ich habe den Namen @ja.und.amen für meinen Instagram-Kanal gewählt, weil ich eben nicht zu allem Ja und Amen sage. Ganz im Gegenteil! Das mache ich mit Texten und Videos deutlich. Ich nehme digital die kirchlichen Strukturen in den Blick, Gottesdienste, Liturgie und Theologie, Alltagspraxis und Gesellschaft – immer aus einer queer-feministischen Perspektive – und so hinterfrage ich, kritisiere, provoziere, verändere und füge hinzu. Eigentlich ist das doch ur-protestantisch, oder!?
Ich habe ein Buch über das Neinsagen geschrieben, weil ich gerade die Bibel als ein Buch voller Neinsager:innen und Widerstand wahrnehme. Jesus zum Beispiel war alles andere als ein Jasager. Jesus sprengte soziale Normen, forderte Nächsten- und Feindesliebe und saß mit Ausgestoßenen an einem Tisch. Ich möchte mit meinem Buch deutlich machen, dass wir Ja und Nein sagen müssen: das bejahen, was lebensförderlich ist, und da Nein sagen, wo es verdammt nochmal nötig ist.
Viele Menschen, insbesondere Frauen, können nicht gut „Nein“ sagen. Kennen Sie das auch?
Ja, das kenne ich. Und deswegen habe ich das Nein einmal gründlich von allen Seiten betrachtet. Das Nein ist nämlich ein starkes Wort, das einen Punkt setzt, ein Stopp. Das Nein trennt, beendet, lehnt ab und markiert eine Grenze. Und gerade dieses Neinsagen wird insbesondere Frauen gesellschaftlich abtrainiert. Frauen sollen lieb sein, lächeln und ihrer Umgebung ein gutes Gefühl geben. Frauen sollen Ja und Amen sagen.
Das Nein ist ein emanzipatives, feministisches und befreiendes Wort – befreiend zum Beispiel von patriarchalen Strukturen oder von gesellschaftlichen Erwartungen. Deswegen möchte ich das Nein hervorholen und Frauen sowie marginalisierte Menschen bestärken, laut Nein oder trotzig „Nö“ zu sagen.
Wie lässt es sich lernen – das Neinsagen?
Es ist oft einfacher, Ja zu sagen. Das Ja ist weich und kuschelig, das Nein hingegen stachelig und kantig. Das Nein ist unbequem – aber notwendig. Wenn wir öfter Nein sagen, achten wir besser auf uns und gehen Wege, die uns guttun. Wenn wir selbst öfter Nein sagen, lernen wir auch, auf das Nein unserer Mitmenschen zu hören. So respektieren wir Grenzen – unsere eigenen und die anderer. Letztlich ist das ein großer Gewinn für alle und der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft.
Auch das Anlegen einer Nein-Liste kann das Neinsagen lehren. Oder eine Nein-Party! Wir sollten anfangen, das Nein zu zelebrieren: Wir feiern ständig das „Ja“, etwa wenn wir heiraten. Warum nicht auch die Kündigung nach einem toxischen Arbeitsverhältnis oder die Trennung nach einer unglücklichen Beziehung? Eine Scheidungsparty fände ich toll. Wir sollten das Nein viel mehr feiern!
Sie lehnen sich weit aus dem Fenster mit Ihren Äußerungen zu Ihrem Glauben und Ihrer Person. Woher nehmen Sie den Mut?
Liebe, Gerechtigkeit und Frieden treiben mich an und ein großes Herz für Gott* und die Menschen – so cheesy und fromm das auch klingen mag. Ich möchte schon hier den Himmel auf Erden anzetteln. Und das tue ich: kreativ, kitschig, ehrlich, trotzig und Nein sagend.

