Gemeinwesenarbeit überholt?

Seit meinen beruflichen Anfängen bin ich im Gemeinwesen unterwegs. Mich hat zum einen meine Arbeit in der Kirchengemeinde interessiert und bin darin immer tiefer eingestiegen. Und zum anderen fielen mir Ereignisse vor die Füße, die ich nur gemeinsam mit anderen Partner:innen bearbeiten konnte.

In einem Nachbarort, der zur politischen Gesamtgemeinde gehört, wurde auf einem privaten Gelände eine Unterkunft für Asylbewerber:innen eröffnet – wie leben diese Menschen? Wie und von wem werden sie willkommen geheißen? Wie sind sie dort untergebracht? Natürlich fuhr ich hin und erkundigte mich und recht rasch bildete sich eine recht große Gruppe von Unterstützer:innen – ökumenisch, mit Vertreter:innen aller Parteien, sozial Engagierte: Kirchenmitglieder und aus den Kirchen Ausgetretene, ältere und jüngere Menschen. Eine Interessengemeinschaft gründete sich, deren Vorsitzender ich wurde.

Wir hielten Gottesdienste mit Menschen aus anderen Ländern; aber vor allem kümmerten wir uns um die Lage in der Unterkunft. Verhandlungen mit dem Eigentümer mussten geführt werden – vieles lag im Argen; Veranstaltungen mit Vertreter:innen der Politik wurden durchgeführt. Wohnungen gesucht – und teilweise auch gefunden. Gespräche mit den Ämtern waren an der Tagesordnung. Viel Arbeit und eine vielfältige Bereicherung. Als Pfarrer blieb ich oft der Einzige der Gesamtgemeinde.

In derselben Gemeinde: Es entwickelte sich ein Bedarf an geleiteter Offener Jugendarbeit. Ein Antrag mit der Nachbargemeinde für eine kirchlich finanzierte Stelle wurde abgelehnt. Daraufhin sprach ich mit allen politischen Parteien aller vier Gemeinden der Gesamtgemeinde und den politischen Gremien. Diese Gespräche hatten in der Tat Erfolg – ich glaube, als Pfarrer oder Pfarrerin ist mensch dann doch jemand, der oder die eben nicht parteipolitisch gebunden ist, sozial engagiert und irgendwie politisch neutral.
Ich erreichte nach rund einjähriger Arbeit einen einstimmigen Beschluss aller Parteien und der vier Kirchengemeinden. Dieser Beschluss war dann das Einfallstor für die kirchliche Zustimmung – Installierung von Offener Jugendarbeit in vier Stadtteilen. Bekannt in den Häusern der Kirchengemeinde und im Rathaus.

Motiviert haben mich die bekannten Texte aus dem Matthäusevangelium und dem Alten Testament (z. B. Levitikus 19,33f). Meine Predigten haben sich verändert. Zustimmung und Kritik haben auch zugenommen. Aber die Zustimmung überwog. Ich glaube auch deshalb, weil ich versuchte alle Akteure einzubinden.

Vor drei Wochen erhielt ich morgens um 8 Uhr eine WhatsApp-Nachricht, ob ich am Abend um 18 Uhr auf einer Demo einen Redebeitrag halten könne, Thema: Demokratie und Asyl. Ich sagte zu und vereinbarte meine Teilnahme mit dem Kirchenvorstand. Eine Woche später kam eine zweite Anfrage zur „Demo gegen rechts“.

Seit rund 10 Jahren engagiert sich die Kirchengemeinde mit vielen Ehrenamtlichen für Menschen, die Kirchenasyl benötigen. Wir haben diese Arbeit ausgebaut und verstetigt. Vor zwei Jahren haben wir dafür eine Auszeichnung der Stadt erhalten; in diesem Jahr sind wir von einer Stiftung für diese Arbeit ausgewählt worden. Es ist bekannt, dass ich für diese Arbeit stehe. Die Bürgermeisterin kommt schon seit vielen Jahren jedes Jahr zu Weihnachten vorbei und übergibt den Gästen und den Ehrenamtlichen ein großes Weihnachtspaket – welch eine Wertschätzung!

Kirchlicherseits kam noch niemand vorbei! Nur wenige Gemeinden sind in dieser Arbeit aktiv. Warum nicht mehr Kolleg:innen, warum nicht noch mehr Gemeinden?

Seit zwei Jahren bin ich nun im Ruhestand. Ich habe einige Zeit gebraucht, um den Ruhestand zu realisieren – es ist ja nicht nur freie Zeit. Sie ist auch eine neue Wirklichkeit – es ruft kaum eine:r mehr an. Das Gefühl tauchte auf verbunden mit der Frage: Wirst du eigentlich noch gebraucht?

Das wird jeder und jede, die diesen Übergang erlebt, spüren und für sich entwickeln und vermutlich auch genau so formulieren. Gut ist, dass eine neue Zeit anbricht. Gut ist, dass diese neue Zeit auch Zeit braucht, bis sie im Kopf und im Herzen angekommen ist. Etwas Neues kann beginnen.

Vor kurzem bin ich bei den Grünen eingetreten – schon lange beschäftigte mich dieser Gedanke und diese Überlegung. Als Pfarrer im Amt dachte ich noch: Naja, dieses Engagement ist ja von der Kirche eigentlich nicht gewollt. Ich wurde eines anderen belehrt. Hätte also auch früher eintreten können. Was kannst du tun in diesen Zeiten? Vor allem, für wen willst du was tun?

Kirchliche Arbeit ist am Gemeinwesen orientierte Arbeit – und sonst nichts. Im Glauben in Christus konzentriert und gebunden und frei, sich für die Menschen zu engagieren, die unsere Hilfe brauchen. In diesen Zeiten sind das vor allem Menschen, die aus anderen Ländern zu uns geflüchtet sind. In dieser Bindung bin ich frei, mich mit allen zu verbinden, die ähnliche humanitäre Ziele verfolgen.

Ist das noch Common Sense in der Kirche? Ich weiß es nicht. Wie denken junge Kolleg:innen? Wie denken Gleichaltrige? Mir scheint, dass es ganz und gar nicht mehr selbstverständlich ist, sich als Pfarrperson auch gesellschaftlich und politisch aktiv zu engagieren und zu handeln – eine kirchentheoretische Frage? Eine Frage an die Homiletik? Eine Frage an die eigene Haltung? Eine Frage an die Ausbildung?