
Bei der Auftaktpressekonferenz des Katholikentages im Sommer fragte ein Journalist, ob das kirchliche Laientreffen nicht eine sterbende Veranstaltung sei? Er hatte Grund, das zu fragen. Denn die Zahl der Teilnehmenden geht ebenso zurück wie die Zahl der Kirchenmitglieder. Auch das Programm wurde abgespeckt. Aus 1200 Veranstaltungen beim vorherigen Katholikentag wurden im schönen Erfurt 500.
In gewisser Weise ist die Frage typisch. Wer noch irgendwie kirchlich gebunden ist, muss sich heute erklären, ja rechtfertigen. Der Niedergang der Institutionen wird dann ebenso ins Feld geführt wie der Missbrauchsskandal. Letzterer mit vollem Recht. Man könnte die Kritiker:innen freilich zurückfragen, warum sie einer letztlich unverzichtbaren Einrichtung die Treue aufgekündigt haben. Denn trotz aller Verirrungen, wie sie sich im Missbrauchsskandal offenbarten, gilt: Den Inhalt, die christliche Botschaft, gibt es nicht ohne das Gehäuse – jene Gebäude also, die landauf, landab in den Himmel ragen und deren Betreiber Kirchen sind Orte, in denen Menschen sich selbst als begrenzt erleben – und erleben sollen. Die Grenze heißt Gott. Kirchen sind auch Orte, in denen systematisch über das Verhältnis vom Ich und Wir nachgedacht wird, also über die Frage, was der Einzelne tun muss, damit das Ganze leben kann. Das größte Ganze ist die Demokratie.
Ja, auch nicht kirchlich gebundene Individuen und Gruppen gehen ähnlichen Fragen nach. Aber in Zeiten eines radikalen Egoismus, der sich zunehmend politisch äußert und die Demokratie auszuhöhlen droht, sind die Kirchen darin auch angesichts ihrer Größe unersetzlich. Sie tragen, wie es der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Bockenförde formulierte, zu jenen intellektuellen und moralischen Voraussetzungen bei, die der freiheitliche, säkularisierte Staat selbst nicht garantieren kann. Das gilt in einer Welt, die auf fast allen Ebenen gen Selbstzerstörung steuert, umso mehr.
Thüringen, dessen Landeshauptstadt Erfurt bekanntlich ist, liefert dafür Beispiele. 1989 trieben Kirchenleute wesentlich die Friedliche Revolution voran. Hier wurde das Bewusstsein für Freiheit und Gerechtigkeit wachgehalten. Hier konnte Demokratie in Maßen geübt werden. Es war daher kein Zufall, dass viele Kirchenvertreter:innen in der Politik landeten.
35 Jahre später ist in Thüringen mit der AfD eine Partei auf dem Vormarsch, die nicht in Kategorien des Zusammenhalts denkt, sondern der Spaltung. Ihre radikale Botschaft kann offensichtlich dort gut Platz greifen, wo das Christentum teilweise komplett verschwunden ist. Denn es lehrt Menschen unter anderem, sich nicht als spaltende Opfer der Verhältnisse zu begreifen, sondern als Subjekte, die frei, aber eben auch verantwortlich sind. Es ist umgekehrt kein Zufall, dass die AfD in Thüringen gerade dort noch weniger Land sieht, wo die Christen mehr Einfluss haben als andernorts: im katholischen Eichsfeld.
Nein, für Illusionen besteht kein Anlass. Der kluge und radikal ehrliche Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sagte: „Vielleicht werden wir immer kleiner und schwächer.“ Tatsächlich sind christliche Traditionen in Teilen unwiderruflich abgebrochen. Wer heute noch lebendige Gemeinden und niveauvolle Gottesdienste erleben darf, der hat Glück.
Trotzdem können Kirchen einen Möglichkeitsraum offen halten in einer Gegenwart, die immer ich-zentrierter und deshalb immer bedrohlicher erscheint. Das Christentum sagt dem Menschen: „Du bist nicht das Maß aller Dinge. Das Ich gibt es nicht ohne das Du. Aus dieser Einsicht entsteht ein Wir.“ Darin könnte eine Rettung liegen.