Vom Himmel hoch …

Vom Himmel hoch …

Sein sicher beliebtestes Lied schreibt Martin Luther zum Weihnachtsfest 1534 – für seine siebenköpfige Familie. Denn „Vom Himmel hoch“ ist auch ein Krippenspiel. Will man Luthers Inszenierungsidee heute umsetzen, bräuchte man ein paar Freund:innen – oder eine ganze Gemeinde.

Denn nach dem Solo-Auftritt des Verkündigungsengels in der ersten Strophe wird dieser in der zweiten Strophe verstärkt durch die himmlischen Heerscharen: „Euch ist ein Kindlein heut geborn“. In Strophe drei antwortet eine große Runde mit dem Bekenntnis: „Es ist der Herr Christ, unser Gott“.

Die Geschichte

Die Idee für sein weihnachtliches Spiellied ist Luther auf dem Marktplatz gekommen. Er hört die Stimme eines fahrenden Sängers: „Aufgemerkt, ihr jungen Burschen, ihr kranzgeschmückten Mädchen. Hört, was ich zu vermelden habe: ‚Ich kumm auß frembden landen her und bring euch vil der newen mär, der newen mär bring ich so vil, mer dann ich euch hie sagen will!‘ Kommt zum Markt, zum Rätselraten! Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. Bei uns könnt ihr finden und gewinnen – wer mit euch tanzt und euch dann küsst: ‚Die fremden Land, die sind so weit, darin wächst uns gut Sommerzeit, drin wachsen Blümlein rot und weiß, die brechen Jungfraun mit ganzem Fleiß.‘“

Begeistert strömen die jungen Leute zusammen. Das ist die Chance zum Kennenlernen. Was heute Singles im Internet oder beim Speed-Dating zusammenbringt, ist seinerzeit das Kranzsingen. Rätsel werden gestellt und gelöst. Wer sich hervortut, hat die Chance, dass ihm Herzen zufliegen und ein Kranz für die Verabredung zum Tanz. Luther beobachtet das Treiben hin- und hergerissen. Das Lied gefällt ihm, dieses Knistern zwischen den Geschlechtern eher weniger.

Die theologische Transformation

Längst weiß Luther von der Wirkung des Singens. Seine Bücher können viele nicht lesen; aber Hören und Nachsingen, das können sie alle. Und seine Lieder, in denen er reformatorisches Gedankengut zusammenfasst, werden auch auf Marktplätzen vorgetragen, nachgesungen, bisweilen sogar von Behörden verboten. Junge Leute im Blick zu haben, gehört zu seinem strategischen Konzept.

In der Vorrede zum Wittenberger Gesangbuch 1524 begründet er sein Liederschaffen: „… dass die Jugend, die ohnehin soll und muss in der Musik und in rechten Künsten erzogen werden, etwas hätte, damit sie die Buhllieder und fleischlichen Gesänge los würde und statt dessen etwas Heilsames lernte und so das Gute mit Lust, wie es den Jungen gebührt, einginge.“

Wie kein anderer Theologe versteht er es, „dem Volk aufs Maul zu schauen“. Beim populären Rätsellied vom Marktplatz allerdings macht er etwas, womit er sich heute einen Prozess mit der GEMA einhandeln würde: Luther eignet sich die populäre Melodie einfach an und verändert, gerade in der ersten Strophe, nur wenige Worte. Dadurch ist es nicht mehr der fahrende Sänger, der „verkündet“, sondern der Engel Gottes. Und der kommt auch nicht aus fremden Landen her, sondern vom Himmel hoch. Mit minimalen Eingriffen verwandelt Martin Luther ein Volkslied in ein gesungenes Weihnachtsspiel.

Was bleibt

Um seine Zeitgenoss:innen für den Glauben zu begeistern, mit echten Alternativen zu den derben Trink- und Liebesliedern des Mittelalters, bedient sich Luther der populären Musik seiner Zeit. Seither ist es durch die Jahrhunderte im Grunde nicht mehr möglich, eine scharfe Trennlinie zwischen weltlicher und geistlicher Musik zu ziehen.

So schreibt Johann Sebastian Bach als Organist und Kammermusiker am Hof von Weimar weltliche Kantaten, die er, mit kleinen Textänderungen, als Vorlage für Musik im Gottesdienst verwendet. Solche Doppelungen lassen sich auch bei seinen Zeitgenossen Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann und Antonio Vivaldi finden. Ich sehe da einen roten Faden wechselseitiger Inspiration, die bis in unsere Gegenwart reicht. So stürmte seinerzeit das Tauflied „O happy day“ in der Gospel-Interpretation der Edwin Hawking-Singers die Charts und ist bis heute ein Bestseller.

Und Weltstar Whitney Houston startete ihre Gesangskarriere seinerzeit in einem Gospelchor in ihrer Kirchengemeinde in New Jersey. Es ist und bleibt die gemeinsame Aufgabe von Theologie und Kirchenmusik, die „Gute Nachricht“ für jede Generation jeweils neu zu übersetzen – gemeinsam, weil sie wesensverwandt sind: Denn beide gehen den Weg durch das Ohr des Menschen und wollen sein Herz treffen.