Kirchenpräsidentin Dr. Christiane Tietz im Gespräch


Gibt es schon Termine für eine Aktion der Kirche auf dem Darmstädter Luisenplatz und in Frankfurt auf dem Römerberg oder auf der Zeil?

Sie hatten nach Ihrer Wahl zur Kirchenpräsidentin gesagt, die Kirche müsse zu den Menschen gehen und dort sein, wo man sie nicht erwartet. Erhoffen Sie sich davon einen positiven Überraschungsmoment?

Ja, unsere Kirche sollte an vielen Orten präsent sein. Als ich sagte, wir müssen zu den Menschen gehen, meinte ich aber nicht nur Aktionen auf großen Plätzen, sondern dachte auch an Überraschungen dort, wo man die Kirche nicht erwartet.


So wie beispielsweise das „Café Gießkännchen“ in der evangelischen Kirchengemeinde Westerburg. Dort lädt eine Vikarin auf dem Friedhof an einem gewöhnlichen Tag zu Kaffee und Kuchen ein. Wenn man z. B. als trauernder Mensch dorthin geht und dann steht da jemand mit Kaffee und Kuchen, hat das etwas Überraschendes.

Es gibt auch Pfarrerinnen, die im Talar in die Kneipe gehen und dort mit Menschen ins Gespräch kommen. Ich glaube, es muss nicht der große Herz-Luftballon sein, der über die Rhein-Main-Ebene fliegt. Auch kleine Sachen können wohltuend irritieren.

Die Überraschung funktioniert aber nur, wenn Kirche gleichzeitig noch da präsent ist, wo man sie erwartet. Wir sollten das Traditionelle weiter pflegen und gleichzeitig mehr von diesen außergewöhnlichen Dingen machen.


Kirche soll Ihrer Meinung nach aus dem Zentrum ihres Glaubens heraus gesellschaftlich präsent sein. Wie kann das konkret aussehen? Was muss sich ändern, um mit dieser Präsenz auch Menschen zu erreichen?

Wir dürfen auf keinen Fall an Präsenz verlieren. Bei Untersuchungen und Umfragen zur Mitgliedschaft in der Kirche haben wir herausgefunden, dass die Menschen die Arbeit der Gemeinden, die Kontakte zu Pfarrpersonen und anderen Hauptamtlichen wichtig finden. Davon sollten wir im Rahmen der anstehenden Transformationsprozesse nichts aufgeben.


Die Kontakte dürfen nicht verlorengehen. Bei den Umfragen wurde deutlich, dass drei Viertel der Leute im Ort die Pfarrerin oder den Pfarrer kennen und die Hälfte schon mal mit ihr oder ihm gesprochen haben. Beim Bekanntheitsgrad erreichen Pfarrerinnen und Pfarrer Werte, die manchmal über denen von Bürgermeistern liegen. Das ist ein hohes Gut.


Die EKHN will Projekte fördern, die die Demokratie stärken, sie möchte für Zusammenhalt und mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Vor dem Hintergrund zurückgehender Mitgliederzahlen und geringerer Steuereinnahmen kürzt die EKHN allerdings im Reformprozess 2030 und mit den neu geschaffenen Nachbarschaftsräumen in vielen Aufgabenbereichen das Geld. Das geht an die Substanz. Weniger Ressourcen – mehr inhaltliche Arbeit, wie soll dieser Spagat gelingen?

Das ist genau die Herausforderung, vor der wir gegenwärtig stehen. Jede Einsparung tut letztendlich weh, weil wir gute Arbeit machen. Wir sind aber voller Hoffnung und betonen noch einmal: Wir wollen uns nicht zurückziehen.

Die Sparpläne sind von der Synode beschlossen worden. Das wurde alles sehr ernsthaft geprüft. Die Entscheidungen sind nicht leicht, und die Synode hat versucht, so viel wie möglich aufrechtzuerhalten, damit es weiterhin funktionieren kann.

Es wird auch künftig immer noch so sein, dass die Diakonie Hessen einer der größten Arbeitgeber im sozialen Bereich ist. Wir werden versuchen, viele Angebote weiter zu gewährleisten. Dabei sind wir auf ehrenamtliche Kräfte angewiesen. Entscheidend wird sein, wie wir das kommunizieren, was da gerade passiert. Wir wollen mit den Ressourcen, die wir haben, unsere Aufgabe so gut wie möglich erfüllen.


Lassen Sie uns den Blick weiten und über ein grundsätzliches Problem von Kirche und Religionsgemeinschaften sprechen. In Zeiten mit Krisen und Kriegen könnten die Menschen doch auch in der Evangelischen Kirche das finden, was sie suchen: Orientierung, Verlässlichkeit, Identität, Hoffnung und Vertrauen im zwischenmenschlichen Bereich. Aber es gibt bundesweit kaum noch Städte mit christlicher Mehrheit. Auch der EKHN haben vergangenes Jahr rund 30.000 Menschen den Rücken gekehrt.

Das ist ein allgemeiner Trend und kein spezielles Problem der EKHN. Bei den Gründen für Austritte wird an erster Stelle die Kirchensteuer genannt. Viele fragen sich auch, was macht die Kirche für mich und wo habe ich Berührungspunkte mit der Kirche? Leider wird auch gesagt, dass Kirche und Glaube für sie nicht mehr so wichtig seien. Beides habe keine Relevanz mehr für ihr Leben. Das heißt also, wir haben die Aufgabe zu zeigen, wieso Kirche und Glauben im Leben relevant sein können.

Diese Überzeugungsarbeit funktioniert aber nicht über pauschale Aussagen; sie gelingt am besten, indem man Menschen kennenlernt, die davon persönlich erzählen. Die Menschen sind der Kirche in Scharen davongelaufen, aber wir können sie nur einzeln zurückgewinnen. Dies kann geschehen, wenn Menschen konkret davon berichten, warum ihnen Kirche wichtig ist und warum sie sich in ihr engagieren. In Zeiten, in denen Glaube nur noch eine Option ist, wie es der Philosoph Charles Taylor einmal sagte, kommt es auf persönliche Erlebnisse und Erfahrungen an. Wer von seiner Begeisterung erzählt, kann andere überzeugen.


Sehen Sie auch Alleinstellungsmerkmale bei der Kirche? Mit was kann sie überzeugen, damit ihre Mitglieder auch nach der Konfirmation noch bleiben? Spiritualität, Ideen zum Frieden und eine gute Gemeinschaft finden sich auch anderswo.

Ja, viele verlassen die Kirche nach der Konfirmation im Teenager-Alter oder wenn sie eine Familie gründen und kommen vielleicht später wieder zu uns. Ich würde sagen, das Alleinstellungsmerkmal der Kirche ist der Glaube an Jesus Christus. Das unterscheidet die christliche Kirche von anderen religiösen Gemeinschaften, und daraus entwickelt sie zum Beispiel ihre Friedensethik. Um Jugendliche nicht nach der Konfirmation zu verlieren, können wir verstärkt versuchen, sie zur Mitarbeit zu motivieren. Sie könnten sich in Jugendgruppen engagieren und selbst Verantwortung übernehmen.

Mit Blick auf unsere Angebote und Formate müssen wir auch junge Familien stärker in den Fokus nehmen. Der Sonntagmorgen mit dem Gottesdienst ist für junge Familien nicht besonders gut geeignet. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, wenn man am Samstag etwas für Kinder anbietet. Ich meine nicht nur einen kurzen Kindergottesdienst, sondern vielleicht etwas für drei Stunden, damit die Eltern in Ruhe einkaufen können. Wir brauchen eine gute Wahrnehmung der Lebenswelten der Menschen.

Das ist nicht neu. Darüber diskutiert die Kirche doch schon lange.

Ja, es verändert sich ja auch schon viel, aber es passiert noch nicht überall. Da können wir sicherlich auch von Best-Practice-Beispielen noch mehr voneinander lernen.

Sie haben sich intensiv mit Dietrich Bonhoeffer, dem Theologen und profilierten Vertreter der Bekennenden Kirche, beschäftigt und Bücher über ihn geschrieben.

Nehmen Sie von Bonhoeffers Gedanken etwas mit in die heutige Zeit, das in der Gesellschaft das Wir-Gefühl stärkt und die Kirche aus der Krise hilft? Was gilt und wahr ist, muss immer im Hier und Jetzt, also aktuell, bewertet werden, meinte Bonhoeffer. Seine Forderung nach mehr Zivilcourage reicht aber wohl nicht aus?

Bonhoeffer war der Meinung, dass man die konkrete Situation sehen muss und dann prüft, was heute passt. Er hat sich in seinem Kampf gegen den nationalsozialistischen Einfluss dafür stark gemacht, dass die Kirche diakonisch arbeitet. Er sagte aber auch, dass es nicht reicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen. Er forderte damit, dass Kirche sich einmischen muss. Das ist eine wesentliche Aufgabe der Kirche in einer gesellschaftlichen Krise. Dazu gehört heute, an die Menschenrechte zu erinnern und für die Freiheit einzutreten.

An Bonhoeffers Briefen aus dem Gefängnis ist für mich erstaunlich, welch innere Stärke er in der Situation gewonnen hat. Gebete haben ihn stark geprägt. Es hat mich immer sehr beeindruckt, dass er aus der Beziehung mit Gott heraus die Gemeinschaft mit anderen Menschen gestalten wollte. Sein berühmtes Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ meint mit den guten Wünschen die guten Gedanken, Geschenke, Gebete seiner Familie und Freunde. Durch sie spürte er, dass er von einer unsichtbaren Gemeinschaft gehalten wird, weil Menschen an ihn denken.

Wir sollten uns bewusst machen, dass wir auch in Krisen nicht allein sind und dass wir Krisen gemeinsam überwinden können. Bonhoeffer sagte auch, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Kraft gibt, wie wir für sie brauchen. Das heißt, dass man sich in jeder Notlage auf Gott verlassen kann, auch ohne vorher zu wissen, ob die eigene Kraft ausreichen wird. Man muss in die Situation reingehen, auf das Problem zugehen. Das hat auch etwas mit Mut zu tun. Bonhoeffer war überzeugt: In diesem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.

Sie legen bei Ihrer künftigen Arbeit den Schwerpunkt auf den Kampf gegen sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche und wollen Schutzkonzepte gegen Missbrauch weiter vorantreiben. Wie werden Sie die Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen sensibilisieren und umstrukturieren, um sexualisierte Gewalt zu verhindern?

Wir haben bereits mehr als 100 Veranstaltungen angeboten, um die Menschen in der EKHN für dieses Thema zu sensibilisieren. Die Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt will alle Gemeinden erreichen. Hauptamtliche sowie Ehrenamtliche, insbesondere die, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, werden fortgebildet. Wir müssen realistisch sein: Die Taten können nicht zu 100% verhindert werden, doch wir werden sie möglichst erschweren. Außerdem wollen wir uns mit theologischen Fragen wie mit unserer Vorstellung von Geschwisterlichkeit und Nähe beschäftigen. Wir brauchen einen neuen Blick auf unser Verständnis von Gnade. Ich denke, wir müssen uns auch die Liturgie anschauen und Antworten finden, wie wir im Gottesdienst von Vergebung sprechen.

Sie stehen in Ihrer Amtszeit vor großen Herausforderungen und müssen Antworten auf schwierige Fragen finden. Bonhoeffer sagte einmal: „Den größten Fehler, den man im Leben machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.“ Sind Sie entscheidungsfreudig?

Das Zitat wird Bonhoeffer zugeschrieben, es stammt aber nicht von ihm. Wenn ich Entscheidungen treffe, möchte ich die Sachlage möglichst genau vor Augen haben und genau verstehen, worum es geht. Dann treffe ich gerne Entscheidungen.

Sie übernehmen das Amt der Kirchenpräsidentin in einer der schwierigsten Phasen der EKHN. In der Bergpredigt heißt es „Sorgt Euch nicht“, aber viele Kirchengemeinden machen sich wegen der Sparpläne große Sorgen. Was motiviert Sie persönlich bei Ihrer Arbeit, was gibt Ihnen die Kraft, mit den Menschen über die anstehenden Veränderungen zu sprechen?

Die Kraft für meine Arbeit schöpfe ich unter anderem aus der Begegnung mit den Menschen. Da ist auch jetzt schon im Vorfeld viel Leidenschaft dabei. Ich treffe immer wieder Kirchenmitglieder, die trotz alledem begeistert sind. Auch wenn sie vieles schwierig finden, kämpfen sie mit Phantasie und Hartnäckigkeit für die Kirche. Ich komme noch einmal auf den Glauben zurück. Er ist eine Option für Menschen, und der Glaube prägt uns. Von ihm können wir nicht schweigen. Das ist gar nicht so merkwürdig, wie das manchmal den Eindruck macht. Unsere Aufgabe besteht einerseits darin, die eigenen Kirchenmitglieder zum Weitermachen zu motivieren, und andererseits darin, Menschen, die noch nicht mitarbeiten, aber der Kirche verbunden sind, zu aktivieren. Sie könnten sich an einer Aktion beteiligen, regelmäßig mitarbeiten oder sich punktuell engagieren. Der viel größere Schritt ist aber, Außenstehende zu erreichen. Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingen wird.