
Arbeitswelt ohne Altersgrenzen
„Arbeitswelt ohne Altersgrenzen“: Für die einen Schreckensbild, für die anderen ein frischer Blick auf die Verteilung der Arbeit. Mit dem Buch „Zu jung? Zu alt? Egal!“ bieten Clara Vuillemin und Peter Lau neue Perspektiven auf einen anderen Arbeitsmarkt und die Folgen für die Berufsbiografien.
Eine steigende Zahl von Rentner:innen erlebt bereits eine andere Arbeitswelt. 13 Prozent der Rentnerinnen und Rentner im Alter von 65 bis 74 Jahren sind weiterhin erwerbstätig. Der Zuverdienst ist nicht mehr begrenzt, das macht die Weiterarbeit attraktiv. 33 Prozent arbeiten aus finanzieller Notwendigkeit aufgrund der persönlichen „Rentenlücke“. 29 Prozent arbeiten aus Freude an der Arbeit und weil sie Gelegenheit, Netzwerke und die gesuchten Kompetenzen haben. Arbeitende Rentner:innen sind allerdings keine homogene Gruppe: Männer mit höheren Bildungsabschlüssen und zuvor gehobenen Positionen dominieren das Bild.
Den beiden Autor:innen geht es jedoch um wesentlich mehr als nur um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Sie stellen fest, dass manifeste Vorurteile die berufliche Entwicklung prägen. „Altersdiskriminierung trifft jeden von uns“ heißt, dass mit dem konkreten Lebensalter manifeste Bilder einhergehen, wozu jemand – schon oder noch – taugt. Zu Anfang ist man angeblich zu jung und noch auf der Suche (Explorationsphase), in der Mitte (Konsolidierungsphase) sind viele sehr damit beschäftigt, Aufstieg und Weiterentwicklung nicht zu verpassen und gründen womöglich eine Familie mit Kindern. Dummerweise ist dies oft auch eine doppelte Familienphase mit Kinder- und Älterenbetreuung und ab 50 (Stabilitätsphase) zeigt schon die Sonne des Ruhestands ihre ersten Strahlen. Wer mit Mitte 50 eine neue Stelle sucht, kann es sich fast aussuchen, welche Ausschreibung er oder sie wegen Verstoßes gegen das AGG anzeigt.
Peter Lau und Clara Vuillemin geht es um einen anderen Blick auf Lebens- und Professionserfahrung: „In Zukunft wird es zwischen den Altersgruppen keine großen Wissenshierarchien mehr geben – alle wissen gleich wenig.“ Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Älteren durchaus zugetraut wird, sich auf Neues einzulassen und Innovation voranzutreiben.
Ältere Mitarbeitende gelten landläufig als nicht innovationsfähig, ihnen wird Lernfähigkeit abgesprochen. Das sind deutliche Formen von Ageism (Altersdiskriminierung). „Die steigende Lebenserwartung bringt mehr aktive Jahre und verlängert nicht die Phase des Verfalls vor dem Tod.“ (S.67)
Der Neunte Altersbericht der Bundesregierung wird noch deutlicher. „Ein im Hinblick auf Ageismus fragwürdiger Sachverhalt ist die Verknüpfung zwischen dem Renteneintrittsalter und der automatischen Beendigung laufender Arbeitsverträge, wie sie in vielen Tarifverträgen festgeschrieben ist. Bei der Beurteilung, ob eine solche Verknüpfung gerechtfertigt ist oder ob sie als altersdiskriminierend zu bewerten ist, geht es nicht um die Bestimmung der – wie auch immer festgelegten – Regelaltersgrenze für den Rentenbeginn selbst. Kritisch – und möglicherweise altersdiskriminierend – ist eine vertraglich vereinbarte automatische Kopplung des Ausscheidens aus dem Beruf an die Erreichung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung. Es ist nicht sofort offensichtlich, wie ein solches mit Erreichen eines bestimmten Alters zwingend vorgeschriebenes Ausscheiden aus dem Berufsleben gerechtfertigt werden kann, welches legitime Ziel dadurch erreicht werden soll und auch nur auf diesem Wege erreicht werden kann. Die meisten der hierbei typischerweise vorgebrachten Argumente erweisen sich bei näherem Hinsehen als nicht stichhaltig.“
So gebe es Untersuchungen, die belegen, dass die Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer:innen nicht nachlässt, dass sogar eine im Altersvergleich stabile und in manchen Bereichen überlegene Produktivität älterer Arbeitskräfte feststellbar sei. Ein Ausscheiden aus dem Beruf mit Erreichen des Renteneintrittsalters lässt sich angesichts der Arbeitskräfteengpässe in vielen Branchen auch nicht mehr mit Rücksicht auf Berufschancen nachfolgender Generationen begründen.
Und auch das Argument, dass ältere Arbeitnehmer:innen mit Erreichen des Rentenalters durch ihre Renten ausreichend versorgt seien und damit keinen Anspruch mehr auf Teilhabe am Arbeitsmarkt hätten, ist für viele, vor allem Frauen, mit geringen Rentenansprüchen schon lange nicht mehr zutreffend. Haben Personalplanende bisher behaupten können, eine Kopplung von Renteneintrittsalter und Ausscheiden aus dem Arbeitsvertrag erleichtere die Personal- und Nachwuchsplanung, bedarf es heute wesentlich flexiblerer und milderer Maßnahmen.
Zunehmend entdecken Firmen, dass Rente nicht gleich Abschied aus dem Betrieb bedeuten muss. Es wird Angebote brauchen, die Fähigkeiten und Kenntnisse der zukünftigen Rentner:innen zu eruieren und zu nutzen. Gerade jüngeren Kolleg:innen in der Einarbeitungs- oder Familienphase können Ältere als Entlastung und Ergänzung auf Zeit zur Seite stehen. Als Coaches, Mentoren oder „Schatten“ (reflektierende Begleiter) haben sich ältere Arbeitnehmer:innen bereits bewährt.
An solche Überlegungen des Altersberichts knüpfen Vuillemin und Lau an. Die Entzerrung eines Arbeitslebens kann durch längeres und phasenweise weniger Arbeiten erreicht werden. Es muss nicht zwangsläufig zu einer reduzierten Alterssicherung führen, wenn in die Rentenphase flexibel eingetreten werden kann.
Der Altersbericht der Bundesregierung urteilt hier sehr deutlich: „Starre Altersgrenzen (wie etwa das Renteneintrittsalter) für die Beendigung laufender Arbeitsverträge sind deshalb als altersdiskriminierend einzustufen.“
Es ist an der Zeit, dass sich beide Parteien, Arbeitnehmer:innen und die Arbeitgeber:innen verständigen können, ob es nicht im beiderseitigen Interesse ist, die Chancen vieler älterer Menschen auf eine selbstbestimmte Teilhabe am Arbeitsleben weiterzuentwickeln. In manchen Betrieben und Verwaltungen wird jetzt schon in angemessener Frist vor Erreichen der Renteneintrittsalters erfragt, unter welchen Bedingungen eine Anschlussbeschäftigung attraktiv wäre. Was wird eine ältere Mitarbeiterin als Herausforderung oder als Unterstützung brauchen, was wird sie weiterhin und was wird sie neu einbringen können? Gibt es einen Bereich, in dem Erfahrung für neue Projekte unabdingbar ist?
In den evangelischen Landeskirchen sieht es derzeit nicht so aus, dass eine „Arbeitswelt ohne Altersgrenzen“ überhaupt nur denkbar wäre. Pension ist Pension, Ehrenamt durch Entlastungsvertretung ist durchaus erwünscht. Es wird aber damit deutlich verbunden, dass der Ruhestand „verdient“ ist und dementsprechend auch als Abschied aus dem Professionsverbund einzuhalten sei. Daran wird die Aufgabe des Beamtenstatus für Pfarrpersonen auch nichts ändern.
Der schon deutlich spürbare Personalmangel wird eher beiläufig hingenommen und für einen Entwicklungsbeschleuniger gehalten. In dieser kirchlichen Haltung und Praxis zeigen sich verheerende, negative Altersbilder und altersdiskriminierende Überzeugungen: Ältere weiterhin einzubinden, verhindert Innovationen. Ihre Lernfähigkeit hat signifikant nachgelassen, die Älteren sind zudem verantwortlich für die prekäre Entwicklung der Kirche der letzten Jahrzehnte. Hätten die Babyboomer besser gearbeitet, stünde man heute anders da. Vuillemin und Lau weisen ebenfalls auf dieses Klischee hin: „Wenn eine Altersgruppe eine andere für einen tatsächlichen oder vermuteten Niedergang verantwortlich macht, ist das Othering.“ (S.75)
Wenn die evangelischen Kirchen stolz auf ihre Zuwendung zu den Älteren und Alten schauen, sollte der Blick auch auf den Umgang mit den eigenen Mitarbeitenden fallen. Ageism und Othering sind keine zu vernachlässigenden Diagnosen. In der kirchlichen Arbeitswelt wird es noch eine Weile dauern, bis diese Erfahrung praktische Wirkung in der Personalbedarfsplanung entfalten kann: „Alter bedeutet nicht Verfall, sondern Veränderung.“ (S.42)