Das Soziale-Orte-Konzept

Praxisbeispiele aus dem Landkreis Waldeck-Frankenberg

Soziale Orte sind in der ländlichen Entwicklung in aller Munde. Selten hat ein Fachbegriff eine so rasche Karriere aus der Wissenschaft in die Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft gemacht. Und auch in kirchlichen Kreisen wird immer häufiger darüber gesprochen. Begleiterscheinung dieser Begriffskarriere ist allerdings, dass der Inhalt zunehmend verwässert wurde.

Fragen wir also die Göttinger Professorin Dr. Claudia Neu, Inhaberin der Professur für die Soziologie Ländlicher Räume mit einem Anteil auch in Witzenhausen, eine der drei Menschen aus der Wissenschaft, die den Begriff 2017 bis 2020 untersucht haben in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt.

Zusammen mit ihren Kollegen, dem Münchner Juristen Prof. Dr. Jens Kersten und Prof. Dr. Berthold Vogel vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen hat sie in den beiden Regionen Waldeck-Frankenberg (Hessen) und Saalfeld-Rudolstadt (Thüringen) unter anderem die Frage gestellt: „Was sind Soziale Orte?“ Sie antwortet darauf: „Soziale Orte sind Orte der Begegnung, der Kommunikation und des Miteinanders. Die unterschiedlichsten Menschen kommen hier im öffentlichen Raum zusammen, um gemeinsam etwas zu unternehmen, aufzubauen oder zu erhalten. […] Soziale Orte antworten häufig auf einen empfundenen Mangel – an Infrastruktur, an Freizeit- oder Begegnungsmöglichkeiten. Dann findet sich eine einzelne Bürgerin oder eine ganze Gruppe Aktiver, die sich an die Arbeit macht und einen Prozess der Veränderung einleitet, an dessen Ende sehr unterschiedliche Ziele oder Ergebnisse stehen können.“

Das mag mit den Augen von Menschen aus den Bereichen Diakonie, Bildung und Pädagogik eher ernüchternd klingen. In Wahrheit verbindet sich aber damit ein neues Verständnis von Planung. Denn Soziale Orte können durchaus planerisch unterstützt werden. Wenn die Planungsziele einer nicht mehr auf Wachstum ausgerichteten Raumordnungs- und Planungspolitik lauten: „Commoning“ statt Privatisierung, Kooperation statt Konkurrenz, Kultur des Maßhaltens gegen die Verschwendung von Ressourcen, Reproduktivität statt maximal mögliche Produktionssteigerung und Suffizienz statt Effizienz; dann sind auch Soziale Orte durchaus „unterstützbar“. Soziale Orte lassen sich nicht implementieren oder gar „bauen“. Aber sie können in ihrer Herausbildung unterstützt werden durch: Infrastruktur für Wissen, Zeit und Geld, Institutionen, die handlungsleitende Regeln aufstellen und Anreizstrukturen schaffen, und politische Weichenstellungen, die Schrumpfung und Wachstum planerisch zusammen denken.

Ein wichtiges Anliegen des Soziale-Orte-Konzepts sollte die Schaffung von Gestaltungsräumen und Strukturen der Selbstermächtigung und Selbstorganisation sein. Dafür braucht es Instrumente für dialogische und diskursive / kooperative Planungsprozesse:


-> Aktivierung statt Partizipation
-> Aushandlungsprozesse organisieren, statt starre (Planungs-) Vorgaben machen
-> die Komplexität der Sozialräume gestalten, statt an funktionaler Trennung festzuhalten
-> integrierend statt funktionstrennend agieren
-> so viele Akteurinnen und Akteure wie möglich einladen und einbinden, statt durrch Wettbewerb auszuschließen

Das sind wiederum Instrumente, die auch im kirchlichen Raum genutzt werden (können). Aber wie sehen „Soziale Orte“ nun konkret aus? Dazu knapp ein paar Beispiele aus dem Landkreis Waldeck-Frankenberg, über die vertiefende Informationen erhältlich sind unter: www.uni-goettingen.de/Soziale-Orte.


In Haina (Kloster)-Löhlbach entstand vor gut zehn Jahren im Dorfzentrum, das durch den Verkehr auf der B 253 schwer belastet ist, im Zusammenwirken der Zivilgesellschaft, der Verwaltung, der Politik und einiger Unternehmen ein neuer Ortskern, der nicht nur Angebote mit Lebensmittelversorgung macht. Vielmehr entstanden auch Begegnungsorte, die dem Austausch dienen, dem Treffen, dem Kennenlernen Neuzugezogener und mehr.

Die Menschen vor Ort wissen das zu schätzen: „Also wenn du jetzt Senior bist, dann gehst du mit dem
Rollator hier zum Supermarkt, dann kriegst du alles,“ lautet eine Stimme, eine andere „dass das Geschäft hier bleibt, ist ganz wichtig!“ Ein leerstehendes Ladenlokal in Diemelstadt-Wethen wurde mit Hilfe der Stadt und engagierter Bürgerinnen und Bürger zum Treff für junge und vor allem ältere Menschen, in dem es munter zugeht, viel Eigeninitiative anzutreffen ist und das so gar nicht die Atmosphäre einer „Einrichtung“ im sozialpolitischen Sinne hat.

Der von den Menschen im Ort für die Menschen im Ort verkehrende Bürgerbus hat dort seinen Standort. Hier findet alltägliche Kommunikation statt, die mithelfen kann, die sich geradezu epidemisch verbreitende Krankheit „Einsamkeit“ einzudämmen.

Zur Stadt Bad Wildungen gehört das recht abgelegene Dorf Frebershausen in einem Tal des Kellerwaldes. Hier ist im Grund genommen das ganze Dorf ein „Sozialer Ort“. Ljubica Nikolic, die im Soziale-Orte-Konzept-Projekt mitwirkte, scheibt über den Ort: „Die Forscher besuchten Frebershausen um Näheres zu erfahren und entdeckten ein sehr aktives Dorf, mit vielen „Machern“. Ein Klimaschutzdorf, das häufig an dem Wettbewerb

„Unser Dorf hat Zukunft“ teilgenommen hat. Eine Gemeinde, mit regem Vereinsleben, die im Rahmen der
Dorferneuerung mehr Kommunikationsorte geschaffen hat: ein neues Dorfgemeinschaftshaus (DGH) mit einem angeschlossenen Spielplatz, an dessen Planung auch die Jugendlichen des Ortes beteiligt waren, ein neues Feuerwehrhaus, eine Apfelpresse, ein Backhaus, direkt daneben ein Bauerngarten, der von den Landfrauen gepflegt wird, und nicht zuletzt eine wunderschöne kleine frühgotische Kirche, die 2007 ein neues Dach erhalten hat.

Und das Schönste ist, dass diese Kommunikationsorte auch genutzt werden und dass hier die Generationen zusammenkommen: Im DGH haben die lokalen Vereine ihre Basis. Hier finden das Oktoberfest sowie das Schlachtessen statt. Ums Eck, an der Apfelpresse wird das dreitägige Pressfest gefeiert. Und im Backhaus machen Jugendliche der Jugendfeuerwehr Pizzen für alle, die Appetit angemeldet haben.


Aber hier wird nicht nur unter sich gefeiert, es gibt auch – und das macht Frebershausen besonders – eine persönliche Ansprache für Neubürger:innen, mit der Bemühung, sie gut zu integrieren.“


Last not least: die Schule in Lichtenfels-Dalwiksthal. Hierbei handelt es sich um das in dem früheren Schulgebäude angesiedelte Dorfgemeinschaftshaus, das 2012 von einer aus dem kleinen Dorf heraus gegründeten Genossenschaft übernommen und zur Gaststätte mit allen weiteren Funktionen eines DGH weiterentwickelt wurde. Hier lassen sich unmittelbares Engagement der Menschen im Ort und kom-
munikative Prozesse zur gemeinsamen Konzeption und Umsetzung mit Händen greifen.


Allerdings hat die Pandemie diesem „Sozialen Ort“ mit seinen beschränkten Raumkapazitäten beinahe den Garaus gemacht. Die „Schule“, deren Gründung und erste Erfolgsphase durchaus Furore gemacht haben, wird sich neu erfinden müssen, um überleben zu können.

So wie alle anderen Beispiele antwortete die Schule Dalwigksthal auf einen konkreten Bedarf. Ein Zitat aus dem Ort macht das anschaulich: „Man stellt sich ja normalerweise nicht auf die Straße und trifft sich da und redet. Man muss ja irgendwas haben, wo man hingeht.“ Diese Bedarfe sind von Ort zu Ort durchausverschieden, was auch die Vielgestalt Sozialer Orte erklärt.

Ein kleines Fazit für die Kirche: Wenn wir Soziale Orte haben und/oder sein möchten, dann sollten wir gelassen herangehen und nicht voller Planungseifer. Sorgen wir lieber dafür, dass die richtigen Menschen auf die richtigen Möglichkeiten treffen. Noch gibt es kirchliche Räume einerseits und Gruppen andererseits, die einen Platz benötigen. Hier müssen wir dafür sorgen, dass es ein „Matching“ geben kann, mit Offenheit, mit Toleranz, mit Zugewandtheit. Lasst uns gute Kooperationspartner suchen und nicht zuerst auf das Geld schauen, dass wir dort eventuell einzubringen haben.


Viele neue Vereine und Initiativen können von den finanziellen Möglichkeiten bei „Kirchens“ nur träumen, auch wenn die kirchlichen Ressourcen zurückgehen. Lasst uns unsere Erfahrung als Institution, als Organisation freigiebig und gerne einbringen und zum Wohle aller zur Verfügung stellen. Da sind wir immer noch vielen anderen weit voraus. So können wir die Bedingungen schaffen helfen, in denen „Soziale Orte“ keimen, wachsen und gedeihen können. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Dr. Jürgen Römer
Fachdienstleiter
Dorf- und Regional-
entwicklung im Landkreis
Waldeck-Frankenberg
Lichtenfels-Dalwigksthal