Dock 30

Entkoppelte Jugendliche suchen Perspektiven

Der Name ist Programm: „Dock 30“. Die Zahl steht für eine echte Hausnummer in der Helwigstraße mitten in der Kreisstadt Groß-Gerau. In dem Gebäude, dem früheren Sitz des Dekanats der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, ist seit April 2019 eine einzigartige Einrichtung der Jugendhilfe untergebracht. Das „Dock 30“ bietet jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren einen sicheren Hafen. Bis heute haben dort 110 Leute Orientierung und Unterstützung gefunden.

Ein Dock dient in der Schifffahrt gewöhnlich dazu, um nach der Trockenlegung Arbeiten am unteren Teil des Schiffes zu ermöglichen. Die Analogie passt zum Konzept des „Dock 30“.

Dort hat die psycho-soziale Betreuung Tiefgang. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die traumatische Erlebnisse hinter sich haben, die aus Familien mit prekären Lebensumständen kommen, die obdachlos sind und die keine Arbeit haben. Wer hier andockt, hat wie in einem geschützten Raum die Möglichkeit, selbstbestimmt Perspektiven für das eigene Leben zu entwickeln.

Das Modell ist hessenweit einzigartig. Für Jugendliche, die ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, ohne Zuhause, aber mit vielen Problemen im Gepäck auf der Straße unterwegs sind, gibt es verschiedene Ämter, die die Aufgaben des Sozialgesetzbuches erledigen. Eine zentrale Anlaufstelle fehlte. Wer scheinbar gescheitert ist, wer keine Adresse angeben kann, wer trotz viel Zeit keine Geduld hat, bis im Warteraum einer Behörde die Nummer auf dem Bon mit der auf dem Display identisch ist, der fiel bisher durch. Im „Dock 30“ können alle anlegen und bis zu einem halben Jahr vor Anker gehen. „Hier sucht niemand nach Zuständigkeiten. Wir haben ein niederschwelliges Angebot und bieten Hilfe aus einer Hand“, sagt Lucian Lazar, Leiter des regionalen Diakonischen Werkes Groß-Gerau/Rüsselsheim.

Das Dekanat Groß-Gerau hat das Haus in der Helwigstraße nach dem Auszug des Dekanats an die Stiftung Diakonie veräußert. Das Diakonische Werk und der Sozialpsychiatrische Verein Groß-Gerau (SPV) haben als Trägerinnen der Einrichtung Verantwortung übernommen. Finanziert wird die Arbeit vom Landeswohlfahrtsverband (LWV) und dem Jugendamt des Kreises Groß-Gerau, die auch zwei Vollzeitstellen für derzeit vier Sozialarbeiterinnen und Pädagoginnen finanzieren.

Die zwölf Plätze im Haus sind immer besetzt. Es werden mehr Menschen, die diese Angebote brauchen. Jugendämter registrieren eine Zunahme sogenannter Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen. Unter den rund 230.000 wohnungslosen Menschen in Deutschland sind knapp 40.000 Jugendliche und junge Volljährige zwischen 14 und 27 Jahren, heißt es im Wohnungslosenbericht 2022 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Etwa 21.000 leben in verdeckter Obdachlosigkeit temporär bei Bekannten „auf dem Sofa“ und 6.000 junge Menschen in völliger Obdachlosigkeit.

„Mit unserer zentralen Anlaufstelle schließen wir eine Lücke in den Zuständigkeiten und bei den Ressourcen“, sagt Lucian Lazar. Im System der Jugendhilfe gibt es einige Bruchstellen, Leistungen zerfasern leicht, da sich diverse Institutionen zuständig fühlen und die Hilfeleistungen aus unterschiedlichen Töpfen kommen, wie etwa die Grundsicherung nach SGB II, die Arbeitsförderung nach SGB III, die Sozialhilfe nach SGB XII oder auch von der Agentur für Arbeit fi nanziert werden. Im „Dock 30“ läuft alles unter einem Dach.

Klingt paradox, doch die Menschen im Haus sind eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Biografi en, die dennoch vieles gemeinsam haben. Alle kennen schwierige Lebenssituationen, viele haben Erfahrungen mit Bindungs- und Bildungsabbrüchen. Sie kommen oftmals aus zerrütteten Familienverhältnissen, manche waren Gewalt ausgesetzt und für viele kam der Schritt in die selbständige Lebensführung wegen der Probleme der Eltern viel zu früh. Sie werden „Sofa-Hopper“, „Off Road Kids“ oder „Systemsprenger“ genannt.

Im Fachjargon ist auch von „Neets“ die Rede (not in education, employmant or training), doch in einem sind sich die Experten einig: Entkoppelte junge Menschen stammen aus allen Gesellschaftsschichten.
Nach Darstellung des Diakonischen Werkes entscheidet der Bildungsstand junger Menschen mit darüber, wie gefährdet sie sind. Im „Dock 30“ haben im Durchschnitt etwa 30 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner keinen Schulabschluss, 40 Prozent einen Hauptschulabschluss und 30 Prozent einen Realschulabschluss.

Nur selten hat jemand das Abitur in der Tasche oder schon ein Studium begonnen. Im „Dock 30“ geht es um das Gefühl, „hier werde ich angenommen, hier hört mir jemand zu“. Das Team entscheidet, wer andocken darf, wer in die Gruppe passt. Der Tagesablauf besteht aus Strukturen, feste Punkte sind das gemeinsame Frühstück und das Abendessen, bei denen wie in einer Wohngemeinschaft über Alltägliches, Organisatorisches und kleine Konflikte diskutiert wird: Wer hat das Licht im Flur nicht ausgeschaltet, warum war die Musik gestern Abend so laut, wer hat die Toilette verschmutzt, wer macht das Bad sauber?

Das Haus versteht sich als Clearingstelle, in der Probleme besprochen und Hilfskonzepte für eine Anschlussperspektive gefunden werden. Auch nachts ist Personal in der Einrichtung. Es existiert kein festes Tagesprogramm, das abgespult wird. Die Bewohnerinnen und Bewohner – ein Drittel Frauen, zwei Drittel Männer – können die Zeit fl exibel gestalten, immer mit den individuellen Plänen und großen Fragen vor Augen: Was ist passiert, in welcher Situation befi nde ich mich, wie gehe ich damit um, wo stehe ich, wie sehen meine Bedürfnisse und Neigungen aus, was sind meine Stärken, wo will ich hin?

Durch den Schutz und die Geborgenheit, durch die Aufmerksamkeit und Zuwendung entsteht ein Fundament, das mit Sicherheit Raum für Neues schafft. Gruppen- und Einzelgespräche mit den Pädagoginnen und Sozialarbeiterinnen bilden den Nährboden, auf dem Erkenntnisse reifen und Hoffnungen wachsen können.

Im „Dock 30“ bekommen die Jugendlichen eine Eingliederungshilfe in verschiedene Systeme und werden an Arbeitsstrukturen herangeführt. Im Kern geht es um Analyse und Perspektivplanung, darum einen Job, eine Wohnung zu finden und soziale Bindungen zu festigen.

„Keiner lebt gern auf der Straße. Die Wünsche für die Zukunft sind ähnlich: ein Arbeitsplatz, ein schönes Zuhause, Familie, Freunde“, sagt Pädagogin Ulrike Schilpp.

Kontakt: dock30@dw-kreisgg.de

Achim Ritz
Journalist
Neu-Isenburg