Frieden schaffen ohne Waffen? Ja und Nein!

Reaktion auf den Beitrag „Vom Krieg zum Frieden / Impulse einer Tagung“ im Magazin für
evangelische Pfarrer:innen 3/23.

Dies vorweg: Ich halte unhöflicherweise den Beitrag von Dr. Thomas Posern für „blauäugig“ und sehe mich veranlasst, zu widersprechen. Meine eigene Biographie spielt dabei eine wesentliche Rolle.

Geb. 1930, Erleben des „Dritten Reichs“ in einer Familie, die den Nationalsozialismus ablehnt,
Erleben des Bombenkriegs in Wiesbaden, also „Kriegskind“. Beispiel: Fliegeralarm nachts. Der
Blick zum Himmel zeigt e i n e n „Christbaum“. Mindestens drei hätten es aus Sicht der
englischen Bomber sein müssen, weil sie nur so die vorgesehene Zielfläche anpeilen konnten.
Die „Christbaum-Markierungen“, an Fallschirmen hängende übereinander angeordnete
Leuchtelemente, funktionierten Gott sei Dank oft nicht. Wir gehen in den Luftschutzkeller. Bald
fällt in der Nähe eine Luftmine (1000 Kilo hochexplosiver Sprengstoff in dünner Stahlhülle. Die
Explosion verursacht zunächst einen heftigen Luftdruckabfall. Den Menschen, die jetzt noch
draußen sind, werden die Lungen aus dem Brustkorb gerissen). In unserem Keller wölbt sich
die Decke nach oben, denn auch oben im Haus sinkt kurz der Luftdruck, nicht aber unten im
luftdichten Schutzraum. Die starke Holzstütze mitten im Keller, festverkeilt am Boden und an
der Decke, verliert ihren Halt und droht zu stürzen. Wir springen auf und halten sie fest. Die
Kellerdecke senkt sich wieder. Banges Fragen: Stürzt das Haus jetzt ein und begräbt uns unter
seinem Schutt? Die Hauswände halten. Die Stütze steht wieder fest. In diesen Momenten der
Todesangst zittern meine Knie. Das kann ich nie vergessen. Im Haus sind fast alle Fenster
zerstört. Die Dachziegel wurden angehoben, um dann zwischen den Holzsparren
runterzufallen. Hätte die Zielmarkierung für die Flieger funktioniert, dann hätte die zweite
Bomberwelle Tausende kleiner Stabbrandbomben über uns ausgeschüttet, und das offene
Gebälk der Hausdächer hätte gebrannt. Die dritte Bomberwelle hätte dann einen
Sprengbombenteppich auf die brennenden Häuser geworfen, um die Menschen in den
brennenden Trümmern zu vernichten.


Am 28. März 1945 erobern die Amerikaner Wiesbaden. Vor unserer Haustüre, auf der
Adolfshöhe, gehen sie auf leisen Sohlen Richtung Innenstadt. Das Gewehr im Anschlag. Kein
Schuss fällt. Wir Kinder stehen neugierig auf der Straße und gaffen. Niemand hat Angst. Wir
erleben in Wiesbaden ein friedliches Kriegsende, wenigstens im Kleinbereich. So geht „Frieden
schaffen ohne Waffen“. Ähnliches passierte Gott sei Dank! auch andernorts in Deutschland.


Eine Handvoll Männer hatte die Ausführung eines Regierungsbefehls sabotiert. Wiesbaden
sollte als Festung verteidigt werden. Die Sabotage war während mehrerer Wochen vorgeplant
worden, in Sitzungen auch in unserem Haus, unter größter Geheimhaltung. Beteiligte:
Wiesbadens Oberbürgermeister, einige Stadtratsmitglieder, Oberstleutnant Karl Gombel,
Kommandant der Heeresgruppe, die Wiesbaden verteidigen sollte (im Zivilberuf evang.
Pfarrer, zuletzt in Gräfenhausen bei Darmstadt), und mein Vater, dem als Offizier im Ersten
Weltkrieg jetzt die Führung eines lächerlichen „Volkssturmbataillons Wiesbaden-Süd“
anvertraut worden war, zur Verteidigung der im Ernstfall viel zu schwachen Panzersperren. Die
örtliche Parteiführung verschwindet in der Nacht vom 27. zum 28. März. Wäre dieser der
geplante Hochverrat noch vorher bekannt geworden, dann wären die Verräter standrechtlich
erschossen worden. Gombel lässt seine Kompanie aus Wiesbaden abziehen und informiert ab
ca. 3 Uhr durch einen Motorradkurier die Saboteure. Die Panzersperren werden geöffnet und
deren Volkssturm-Besatzungen nach Hause entlassen. Gegen 6 Uhr kommen die „Amis“ bei
uns vorbei. (Diese Ereignisse sind ausführlich im Wiesbadener Stadtarchiv zu lesen.)
Der längst verlorene Krieg geht weiter. Endlich schließt sich die militärische Schlinge um das
letzte Refugium Hitlers, die Reichshauptstadt. Der Historiker und Journalist Sven Felix
Kellerhoff (zitiert SFK S.) beschreibt in seinem Buch „Berlin im Krieg“ (2011) die
erbarmungslosen Straßenkämpfe dort, Haus für Haus, Keller für Keller. Gefallene bleiben
liegen, wo sie gefallen sind, auf den Straßen und in den Trümmern, Russen und Deutsche,
Soldaten und Zivilisten. Die Kämpfe konzentrieren sich auf das Regierungsviertel. Die
Gerüchteküche kocht. Manche wissen Hitler kämpfend an vorderster Front, andere hörten
etwas von Selbstmord. „Mit einer Million Granaten hatte die sowjetische 3. Stoßarmee das
ehemalige Parlament sturmreif geschossen. Von Mund zu Mund verbreitet sich die Nachricht:
Hitler ist tot. „Der Maifeiertag (1. Mai) war heiß und ‚schrecklich schön‘. Narzissen,
Vergissmeinnicht, junges Grün. Dazwischen hingestreckt aufgedunsene tote Soldaten. Über
allem klebrig süßlicher Verwesungsgeruch“ (SFK S. 338). „Im Morgengrauen des 2. Mai
kapituliert der letzte Kampfkommandant von Berlin, General H. Weidling, bedingungslos. Bald
darauf rollen sowjetische Lautsprecherwagen durch die Innenstadt, die seinen letzten Befehl
verkünden: ‚Am 30. April hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm die
Treue geschworen haben, im Stich gelassen. Jede Stunde, die ihr weiter kämpft, verlängert die
Leiden der Zivilbevölkerung und unserer Verwundeten‘. Der Krieg in Berlin war zu Ende“ (SFK
S. 339).


Adolf Hitler hat den Zweiten Weltkrieg verbrochen, hat größere Verbrechen begangen als
jemals e i n Mensch vor ihm. Alle, die seine Verbrechen aufzuhalten versuchten, ließ er
ermorden. Unser deutsches Volk hatte ihm 1933 mehrheitlich vertraut. Massen des Volks
hatten ihm nach dem NS-Wahlsieg zugejubelt und ewige Treue geschworen. Seine geradezu
dämonische Ausstrahlung auf Menschen, die ihm einmal persönlich in die Augen geschaut
hatten, infizierte sie mit dem fast unheilbaren und ansteckenden Bazillus Morbus Hitleri. Der
hatte Deutschland und Österreich verseucht wie eine Pandemie.


Hitler war eine Krankheit. Therapie? Nur sein Tod. Aber die Hitlergegner im eigenen Land,
Einzeltäter oder Gruppierungen, waren zu machtlos, um ihn zu eliminieren. Also musste er
gewaltsam durch die Waffen unserer militärisch überlegenen Kriegsgegner in den Tod
getrieben werden. „Frieden schaffen ohne Waffen“? – wenn der Feind des Friedens eine
kranke Bestie ist? Unmöglich!


Den wunderbar langen Frieden, der nach Hitlers Tod unserem Volk zugefallen ist, verdanken
wir den Waffen unserer Kriegsgegner, die mit diesen Waffen und eigenem hohen Blutzoll
unsere Befreiung geschaffen haben. Das sollten sich die trotz des 9. November 1989 (Ende
des „kalten Kriegs“) immer noch aktiven Ostermarschierer klar machen und alle Kriegsgegner,
die jetzt immer noch vom freien Westen annehmbare Ergebnisse von Friedensverhandlungen
mit Putin für möglich halten.


Zurück zu meiner Biographie: Ich bin ein friedensbewegter Pfarrer gewesen; beteiligte mich
an vielen, auch der größten Friedensdemo Deutschlands, im Bonner Hofgarten 1981, gegen
den NATO-Doppelbeschluss. Am 21. 11. 81 inszeniere ich mit polizeilicher Genehmigung eine
Friedensdemo in Oppenheim und halte dort auf dem Marktplatz eine flammende Rede.


„Frieden schaffen ohne Waffen“ ist meine Parole. Ich halte jede Form einer Wiederaufrüstung
Deutschlands für falsch, weil Ressourcen verschwendet werden, die dringend im Kampf gegen
den Hunger in der Welt und für die Bewahrung der Schöpfung gebraucht werden.


Jahrzehnte vergehen. 2022 überfällt Putin die Ukraine. Ich bin 91 Jahre alt, Witwer, und nicht
mehr der Gesündeste. Der medizinische Dienst „setzt“ mich auf Pflegegrat 2. Polnische Frauen
betreuen meinen Haushalt. Eine sagt mir, in Polen halte man Putin für einen „zweiten Hitler“.
Da überfällt es mich. Also muss auch Putin vernichtet werden. Das geht nur mit Waffen. Also
muss die Ukraine vom freien Westen baldigst ausreichend militärisch unterstützt werden, nach
allem, was die grausame Geschichte vom Morbus Hitleri lehrt. Selbstverständlich „soll Krieg
nach Gottes Willen nicht sein“. Wenn aber Krieg ist und er nur durch Waffengewalt zur Rettung
der Menschheit beendet werden kann, dann muss Krieg geführt werden mit den
bestmöglichen Waffen. Natürlich mit dem Vorsatz, das unvermeidliche Blutvergießen so weit
wie möglich zu minimieren; dabei Russland vor neuer Verelendung zu bewahren. Dass das
Gespenst eines Dritten Weltkriegs im Hintergrund droht, ist mir bewusst, ebenso die
Atombombe, auch dass es ein „morbushitleri“-verseuchtes China gibt.


1983 besuche ich mit einer Delegation hessen-nassauischer Pfarrer und einer Pfarrerin, der
späteren Pröpstin Helga Trösken, das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Ein junger
polnischer Historiker macht die Führung, in einwandfreiem Deutsch, ausgesprochen höflich,
freundlich, sehr persönlich. Er geht auf jede unserer Fragen ein. Wir sind meines Erinnerns
dort ca. zwei Stunden unterwegs. Eigentlich hatte man all das unfassbar Schreckliche, das hier
passierte, schon oft gelesen. Aber der direkte Anblick z. B. der damals noch stehenden 100
gemauerten Schornsteine für die Heizöfchen in den 100 Baracken (alle bis auf eine waren
schon abgerissen), von denen jede für 1000 Häftlinge vorgesehen war – 100000 Häftlinge in
Birkenau bei chronisch „arbeitenden“ Gaskammern und Verbrennungsöfen – bei chronisch aus
dem militärischen Machtbereich Hitlers eisenbahnwagonweise nachgelieferten Opfern.
Welche Dimensionen! Und um wieviel furchtbarer ist das hier erst gewesen, als es noch nicht
Museum war, sondern millionenfach tatsächlich qualvolles Leben und Sterben?


Wir sind wie erschlagen. Als wir uns verabschieden und bei unserem Gästeführer bedanken,
füge ich hinzu, dass ich mich wundere, wie freundlich er uns Deutschen begegnet, obwohl er
doch gut weiß, wie bestialisch die Deutschen in Auschwitz gehandelt haben. Seine Erwiderung:
„Das waren nicht d i e Deutschen, das waren die Hitlerowscy“. Das tat uns gut. – Auch so
geht „Frieden schaffen ohne Waffen“.


„Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
in der Ukraine Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen“, so in
unserer Tageszeitung vom 18. März 2023. Das ist die richtige Konsequenz aus allem, was über
Hitler und Putin bekannt ist. Aus der Hitlerkatastrophe hat man gelernt, dass die Eliminierung
von Menschen, die an Morbus Hitleri leiden, nicht von nur einem Staat geleistet werden kann,
sondern ein Anliegen der ganzen freiheitlichen Welt sein muss. Wenn dieser Gerichtshof seine
Urteile vollstreckt, dann spielen Waffen ihre Rolle, aber nicht mehr Galgen, Foltern,
Gaskammern und Gewehre, sondern die Waffen rechtsstaatlicher Gerichtsbarkeit: Gefängnis
bzw. geschlossene Psychiatrie, also Schloss und Schlüssel. Im schlimmsten Fall braucht es Krieg,
um solche Übeltäter zu eliminieren. Frieden schaffen ohne Waffen funktioniert in einem
solchen Ernstfall NICHT.


Hier erlaube ich mir noch einen theologischen Nachschlag. Ich weiß, dass meine hier
angestellten Überlegungen angreifbar sind. Alle vier Evangelien des NT erzählen a u c h einen
gewalttätigen Jesus, in der Geschichte von der „Tempelreinigung“. Die Synoptiker jeweils im
Zusammenhang mit Jesu Leidensgeschichte. Das Johannesevangelium stellt sie an den Anfang
(Kap. 2, 13-17). Sein Verfasser gibt Jesus zusätzlich eine Waffe in die Hand, eine Geißel aus
Stricken. Was ist der tiefere Wahrheitsgehalt dieser um 100 n. Chr., also ca. 30 Jahre nach der
Zerstörung des Tempels, tradierten Legende? Ich vermute, dass alle theologischen Richtungen
der vier Evangelien warnen vor einem kritiklosen Ja zur Tempel- und Opfergläubigkeit der alten
Religion und damit vor einem Rückfall der jungen Christenheit. Notabene: das fromme
Judentum leidet bis heute unter der Tempelzerstörung durch die Römer 70 n. Chr. und hofft,
dass der kommende Messias den Tempel mit seinen Opferzeremonien wiederaufrichten wird.


Die Legende Apostelgeschichte 2, 46f (Sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und
brachen das Brot hier und dort in den Häusern….und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.),
ebenfalls in der Zeit um 100 n. Chr. rekonstruiert, deutet an, dass auch Christen damals dem
zerstörten Tempel nachtrauerten. Die Tempelreinigungsgeschichte hat letztlich nicht das
Gebäude im Sinn, sondern seinen Zweck, das religiöse Opfer: Gottes Wohlwollen soll mit
menschlichen Mitteln, den Opfertieren, für Geld erkauft werden. Damit steht das Zentrum
unseres Glaubens auf dem Spiel (wie ganz ähnlich 1517 für Martin Luther): Die unbezahlbare,
geschenkte Liebe Gottes wird von Menschen verwaltet und verkauft. Das ist ein theologischer
Notfall, Ernstfall, emergency. Da scheinen Blaulicht und Waffen (die Geißel) erlaubt. Heute
steht mit dem Putinkrieg die Freiheit von Leib und Seele der Menschheit auf dem Spiel. Erst
der Tod Adolf Hitlers konnte den Zweiten Weltkrieg beenden. Wer glaubt, Putin zu einem
Aufgeben seiner Kriegsziele durch Verhandlungen bewegen zu können, hat nicht begriffen,
dass Putin ein zweiter Hitler ist. Putin kann nur durch Waffengewalt unschädlich gemacht
werden, durch Waffen, die wirksamer sind als seine russischen oder die von der ebenfalls
verbrecherischen Iranregierung gelieferten Waffen.