Jede Geschichte ein kurzer Roman

Jede Geschichte ein kurzer Roman ich habe kein Talent zum Fan-Sein, aber wenn ich jemals ein Fan von jemandem sein würde, dann von Alice Munro. Sollten Sie sie noch nicht kennen: Sie haben wunderbare Entdeckungen vor sich! Sie werden eintauchen in die Lebensläufe von Frauen, irgendwo in Kanada, weit draußen auf dem Land und mitten in den Städten. Sie werden ihnen bei ihren ersten Schritten in Richtung Emanzipation folgen, werden mit ihnen zurückblicken auf die Umbrüche in ihren Leben, auf die Männer, die Kinder, die Freundinnen, die sie hatten, Sie werden nach jeder der langen Kurzgeschichten, die so gehaltvoll wie kleine Romane sind, sie gleich nochmals lesen wollen, und Sie werden sich dabei die ganze Zeit fragen, wie Munro das macht: wie sie es hinbekommt, Sie so mitzunehmen in ihren Erzählkosmos, obwohl sie oft nur andeutet, Leerstellen lässt, wenig erklärt, nichts ausbuchstabiert.

Ich weiß nicht, wie oft ich meine Lieblingsgeschichte von ihr – „Der Bär kletterte über den Berg“ – gelesen habe, und immer noch ist mir nicht alles darin ganz klar geworden – es kann passieren, dass mir manchmal eine Überlegung dazu in den Kopf kommt, und dann lese ich sie nochmals und die Uneindeutigkeit bleibt, dabei geht es letztlich nur um eine lange Ehe, an deren Ende die Frau dement wird und sich so aus einer ebenso liebevollen wie unperfekten Beziehung löst. Alice Munro war seit jeher eine zurückhaltende Person; jetzt im Alter von 92 Jahren hat sie sich ganz vom Trubel verabschiedet. Ein Fehler hatte mir und meinem Mann, einem Journalisten, vor fast zwanzig Jahre die Gelegenheit verschafft, sie zu einem Interview zu treffen: Ihr neuer Agent hatte nicht gewusst, dass sie bereits damals keine Interviews an ausländische Journalisten mehr gab („Ich rede mich immer um Kopf und Kragen“, erklärte sie uns gegenüber), und Alice Munro war zu höflich, um die einmal gemachte Zusage zurückzuziehen. So trafen wir uns also in ihrem Wohnort Goderich am Lake Huron, in einem Café, in dem sie sonst ihre Freundin Margaret Atwood zu treffen pflegte.

Gut eine Stunde hatten wir uns unterhalten, als schließlich ein älterer Herr mit Baseballkappe an unseren Tisch trat und grüßte. Alice Munro sah uns betroffen an, „dieser Typ stalkt mich“, raunte sie, bevor sie loslachte und uns ihren Mann Gery, einen Geologen, vorstellte. Zuvor hatte sie Goethe auf Deutsch rezitiert und sich an eine Begegnung mit Günter Grass erinnert, dessen patriarchales Gehabe sie belustigt hatte (das Interview ist abgedruckt in ihrem einzigen Roman Das Bettlermädchen). Vor zehn Jahren erhielt Alice Munro den Literaturnobelpreis, und damals kündigte sie an, keine Bücher mehr schreiben zu wollen. Leider hat sie sich daran gehalten. Aber immerhin vierzehn Bücher von ihr sind auf Deutsch erschienen. In „Ferne Verabredungen“ sind acht ihrer schönsten Erzählungen versammelt und mit einem ebenso klugen wie unterhaltsamen Nachwort der Autorin und Journalistin Manuela Reichart versehen, wie ich ein Fan von Alice Munro.

Ich bin gespannt, ob auch Sie eine:r werden …