Keine Kirche für die Unsichtbaren

Angebote für Niemand

Spannende Veranstaltung, kluge Idee, hübsch gestaltet, alle finden es gut – aber keiner kommt! Entwickeln die Engagierten oder Pfarrpersonen Angebote für die Unsichtbaren in Gemeinden, scheitern diese nicht selten an mangelnder Teilnehmerzahl. Es ist schwer, die zu erreichen, die sich außerhalb von kirchlichen Informationsräumen bewegen.

Konkret spiele ich auf die mittlere Generation an, also Kirchenmitglieder zwischen 20 und 50, die zwar fleißig Kirchensteuer zahlen, aber faktisch im Gemeindealltag nicht auftauchen. Wieso auch? Provokanter formuliert: Wieso sollte ein junger Vater seinen freien Abend in einem muffigen Gemeindehaus verbringen, wenn er genauso gute Gespräche mit Freundinnen in der schicken Altbauwohnung führen kann?

Oder warum sollte sich eine Studentin an den Gemeindemittagstisch gesellen, wenn da erstens nur Seniorinnen sitzen und sie die Einladung dazu zweitens nie zu Gesicht bekommen würde?

Kirchliche Angebote sind für die mittlere Generation schlichtweg nicht attraktiv. Noch radikaler formuliert: Kirchliche Angebote für die Unsichtbaren werden nicht einmal gebraucht, geschweige denn in der Zielgruppe vermisst.

Damit möchte ich nicht sagen, dass es keine kreativen und spannenden Angebote gäbe. Ganz im Gegenteil: Von christlichen Whiskey-Tastings bis zu Kopfhörerpartys in der Kirche, die Ideen und Konzepte sind da. Ich wage aber zu behaupten, dass, egal wie gut das Angebot ist, sich kein Kirchenferner dorthin verirren wird.

Es ist Ressourcenverschwendung, immer wieder zu versuchen, die anzusprechen, die kein Interesse haben und dabei die zu fordern, die sowieso immer da sind: Die Engagierten und die Hochverbundenen.

Un/Sichtbar

Aktuell kommt die 6. Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU 6) zu dem Ergebnis, dass mit 56% die Säkularen die größte Gruppe in der Gesellschaft ausmachen. Mit diesem Ergebnis zeichnet sich die Entwicklung der Kirchen in Deutschland zu einer Minderheit ab, wobei der Anteil der Mitglieder noch knapp über 50% liegt.

Doch egal, ob Mitglied oder nicht, deutlich sticht heraus, dass diese große Gruppe kaum noch religiös ansprechbar ist. Ähnlich sieht es mit den Religiös-Distanzierten aus. Sie bilden zu großen Teilen die Gruppe ab, welche ich zuvor die Unsichtbaren genannt habe. Die Religiös-Distanzierten sind ein Querschnitt der Bevölkerung. Sie machen noch etwa 25% der Bevölkerung aus und sind sogar zu 84% Kirchenmitglieder. Dennoch lässt sich unter ihnen eine soziale Anbindung an kirchliche Strukturen feststellen.

Die Suche nach Sinn existiert in ihrem Leben, die Angebote der Kirche sind für sie jedoch keine Option. Die Unsichtbaren sind divers und faktisch für die Kirche nicht erreichbar.

Der Gruppe der Unsichtbaren stehen die Sichtbaren gegenüber: Die Kirchlich-Religiösen sind mit 13% zwar deutlich weniger, doch gleichermaßen stärker engagiert, denn Religion und auch die Kirche sind für ihr Leben relevant. Hier sehen wir die Milieuverengung, die sich auch in den letzten 15 Jahren nicht abwenden ließ: Die Sichtbaren sind konservativ etabliert, traditionell, sozial-ökologisch oder befinden sich in der bürgerlichen Mitte.

Sie sind gut integriert, ausgebildet und finanziell abgesichert. Ungefähr die Hälfte dieser Gruppe ist hochverbunden mit Kirche und wir kennen sie alle: Sie rühren in letzter Minute den Waffelteig für den Adventsmarkt an, besuchen die Seniorinnen an runden Geburtstagen oder leihen selbstverständlich die eigenen Bierbänke für das Gemeindefest aus. Doch was besonders wichtig ist: Sie sitzen in unseren Kirchenvorständen und Synoden. Sie sind also integraler Bestandteil kirchlicher Leitung und arbeiten in ihrer Freizeit ganz konkret an der Zukunft der Kirche mit.

An der Zukunft werkeln

Die Kirche muss sich im Angesicht des verfestigten Negativtrends verändern. Zur Debatte stehen radikale Strukturveränderungen von Kooperationen bis Fusionen. Damit Neues entstehen kann, muss Altes überwunden werden. Das nennt man dann Innovation und Exnovation, und beides geschieht zurzeit überall in der Landeskirche in sogenannten Zukunftswerkstätten.

Dort wird sie gezimmert: Diese ganz neue Zukunft der Kirche. Scheinbar hierarchiearm aus der Basis heraus, von denjenigen, die Kirche auch im Alltag gestalten. Das zumindest ist der Anspruch.

Und er scheint auch zu fruchten: Betrachtet man die mediale Außenwirkung der Zukunftswerkstätten in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (z.B. Baunatal und Marburg), lässt sich erkennen, dass die Methode ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Betroffene werden zu Beteiligten. Verschiedene Artikel sprechen von Visionen, vom Zusammenwachsen, vom Sorgen teilen und Kräfte bündeln. Sie berichten, wie gut diese positive Energie tue, dieser Aufwind in frustrierenden Zeiten. Und in den frustrierenden Zeiten liegt der Knackpunkt.

Beteiligt weil betroffen

Prinzipiell ist der landeskirchliche Zukunftsprozess für alle Beteiligten kräftezehrend. Die ausbleibenden Besucherinnenströme in den Gemeinden schmerzen vor allem die Hochengagierten. Weil auch sie weniger werden, wird die Gremienarbeit anstrengender, während der Wirkungsbereich sinkt.

Dieser Verlustschmerz wird dann am deutlichsten, wenn in den Zukunftswerkstätten über die Ängste und Zweifel gesprochen wird. Und eine Angst wirkt am stärksten, nämlich das zu verlieren, was mit der eigenen Gemeinde verbindet. Zukunft: ja! Vernetzung: gerne! Etwas aufgeben: bitte nicht! Lieber Altes zurückholen!

Der Kirchenvorstand trifft weitreichende Entscheidungen über die Rahmenbedingungen und Entwicklungen der Gemeinde. Er ist eine Beratungsinstanz über theologische, personelle und finanzielle Inhalte. Damit trägt der Kirchenvorstand echte, nicht zu unterschätzende Verantwortung.

Da ist es doch nachvollziehbar, dass die Frustration wächst, sobald nach der Traumphase die Fakten auf den Tisch kommen, die Zahlen konkreter werden: Weniger Gemeindeglieder, weniger Gebäude, weniger Hauptamtliche. Und dann das Trostpflaster: Durch mehr ehrenamtliches Engagement bleibt die Kirche lebendig – das wird sie retten.

Keiner soll die Kirche retten müssen

In Hinblick auf die Hochengagierten in meiner Gemeinde, nehme ich wenig Potential für noch mehr Engagement wahr. Diese Menschen geben schon alles, was sie können. Sie bezahlen für die Kirche, sie gestalten die Kirche und sie repräsentieren das kirchliche und das kommunale Leben im Sozialraum. Zu erwarten, dass sie die Kirche retten, ist zu viel verlangt!

Ganz besonders dann, wenn diese Rettung der Institution verlangt, Unsichtbare anzusprechen, welche – wie die KMU 6 verdeutlicht – für die Kirche nicht erreichbar sind. Das bedeutet, dass es, vereinfacht gesagt, Zeit- und Ressourcenverschwendung ist, den kreativen Aufwind der Zukunftswerkstätten dafür zu nutzen, Angebote für Kirchenferne zu schaffen.

Die Unsichtbaren werden auch in Zukunft unsichtbar bleiben. Eine Trendumkehr ist nicht möglich, weil sich die Gesellschaft dem kirchlichen Einfluss entzieht. Eine Kirche für Alle würde sich somit in eine Kirche der Ausgelaugten und Frustrierten verwandeln, deren Wunschhorizont unberücksichtigt bleibt.

Die Zukunft für Sichtbare

Wenn wir in einer Werkstatt die Zukunft bauen wollen, brauchen wir bestimmte Materialien: Engagierte mit Leidenschaft und Erkenntnisse darüber, wo kirchliches Handeln heute wirkt. Außerdem müssen Gemeinden

im Vorfeld einsehen, dass sie in ihrer Arbeit nur bestimmte Menschen ansprechen und analysieren, wer diese Menschen sind, um sie weiter mit guten Angeboten versorgen zu können. Ohne dies als Defizit zu verstehen.

So wird die gabenorientierte Arbeit von Profilgemeinden gestärkt. Jeder und jede sollte das tun dürfen, was er oder sie als sinnstiftend erachtet. Orientiert an den eigenen, ganz individuellen Begabungen. Das gilt sowohl für die Gemeindeglieder als auch für pastoraltheologische Entwicklungen.

Profil nach Außen und Innen

Mit dem Blick auf die Zukunft sollte außerdem bedacht werden, dass neben der Arbeit mit den bekannten Gruppen und Milieus die Kinder- und Jugendarbeit die wichtigste Ressource für die Engagierten von morgen darstellt. Wer mit Religion aufwächst, wird in kirchlichen Strukturen immer wieder ein Zuhause finden können. Daneben liegt das größte Potential in dienstleistungsorientierter Kasualpraxis. An den Schwellenmomenten des Lebens sollte die Kirche auch für die Unsichtbaren verfügbar sein.

Dafür ist von Bedeutung, dass sich die Kirche als Institution eine vertrauensvolle Außenwirkung mit profilierter Wertevorstellung erarbeitet und diese präsentiert. Denn nur mit Image bleibt die Kirche nicht unsichtbar für die Unsichtbaren.

Ich behaupte, dass die kirchliche Arbeit in die Gemeinden hinein auf ein solches Image vermutlich keinen Einfluss haben wird. Darum ist es auch nicht schlimm, wenn der Gemeindealltag nur in bestimmten Milieus stattfindet, solange diese Arbeit sich selbst rechtfertigen kann.

Auf die Fläche der Landeskirche betrachtet, wird so dennoch Vielfalt entstehen, weil die meisten Gemeinden schon heute ein Profil haben: Sie müssen es nur erkennen und selbstbewusst in die Zukunft tragen.

Dann setzen Engagierte auch kluge Ideen in spannende Veranstaltungen um, die ansprechend gestaltet sind. Dann werden andere Engagierte kommen, denn ihre Bedürfnisse sind der Maßstab für die Gemeindearbeit. Und der Wunschhorizont ist plötzlich weniger weit weg.