Neue Impulse zum Weiterdenken

Das Motivationscamp und die möglichen Folgen

Mit der Motivation ist es wie mit einem Samenkorn. In beidem steckt Energie, die neue Entwicklungen und kreative Prozesse in Gang bringen kann. So entsteht Neues.


Mit der Metapher vom Samenkorn haben Bettina von Haugwitz und Werner Böck, die Vorsitzenden der Pfarrvereine der beiden Landeskirchen Kurhessen-Waldeck und Hessen-Nassau, in der Evangelischen Akademie in Frankfurt den rund 50 Teilnehmenden eines Motivationscamps ein facettenreiches Bild präsentiert.

Gleich zur Begrüßung legten sie Körner und Humus auf den Tisch, neudeutsch sogenannte „Seedballs“. Die Kirche braucht diese kraftvolle Mischung für den notwendigen Transformationsprozess. Es fehlt an Geld, an Mitgliedern und somit an Vertrauen. In Frankfurt gehören nur noch 12,8 Prozent der Bevölkerung der Evangelischen Kirche an.

„Und um was geht es wirklich? Mit dieser Frage müssen wir uns beschäftigen.“, fordert der Publizist Dr. Dr. Michel Friedman. „Wann haben wir in den vergangenen 20 Jahren für die Demokratie gepredigt und deutlich gemacht, dass das Leben nichts so bedeutsam macht, wie unsere Demokratie und die freie Meinungsäußerung?

Wann haben wir mit Menschen darüber diskutiert, wie wichtig es ist, im politischen Sinne frei zu sein, soziale Gerechtigkeit zu erleben und welche Bedeutung die Würde des Menschen im demokratischen Raum hat?“. Friedman stellt im Motivationscamp viele Fragen, doch sie wirken wie Handlungsanweisungen auf einer Agenda.

Der Philosoph hält ein Plädoyer für die Demokratie und gegen den Antisemitismus. „Rechtsextremisten wollen mit Leidenschaft die Demokratie zerstören, doch ich frage mich, wo bleibt unsere Leidenschaft für die Demokratie?“ Man müsse auch mit denen, die anders denken, in den Dialog treten, um sie – wie auch immer – ein bisschen zu „zerstören“.

Michel Friedmans Appelle richten sich auch an die Kirche, bei der er nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober Mitgefühl vermisst hat. „Ich hätte mich gefreut, umarmt zu werden, doch davon gab es zu wenig. Und es hätte noch etliche andere Solidaritätsaktionen der Kirche geben müssen.“ Empathie und Solidarität sind seiner Meinung nach Voraussetzungen für eine menschliche Gesellschaft.

„Nur die demokratische Idee macht es möglich, Empathie und Solidarität zu leben“, betonte er. Die Haltung der Kirche müsse deutlich erkennbar sein, erst danach beginne das Streiten und das Suchen nach Lösungen und dann müsse auch eine Entscheidung getroffen werden. Daran mangele es derzeit in der Debattenkultur. Der Kirche rät er, die Themen nicht zu langsam zu debattieren und zu verhandeln, denn die Welt habe ein viel schnelleres Tempo, meint der Philosoph, den ein Satz besonders motiviert: „Das Prinzip Mensch ist mein Leben. Wir müssen den Menschen und dem Wunder, das jeder in sich trägt, zugewandt sein und allen das Leben gönnen.“

Friedman will nicht, dass man über Schwarze, Schwule oder Juden redet, sondern „lasst uns über die Menschen sprechen, denn ,jeder ist jemand´“, zitierte er den Schriftsteller George Tabori. Für Michel Friedman steht fest, dass „wir uns in einer Transformationszeit befinden und die Paradigmen des 20. Jahrhunderts hinter uns lassen“. Die Statik verändere sich, die Welt ordne sich derzeit völlig neu, so seine Einschätzung.

China sei eine Weltmacht, die wir lange verlacht hätten. Nichts habe die Menschheit in so kurzer Zeit so stark berührt und verändert wie die digitale Revolution. Das Internet bringe Fluch und Segen zugleich, denn es sei mit all seinen Desinformationen die größte Mülltonne der Welt. Rechtsextreme Kräfte wie die AfD investierten für ihre Propaganda 50 Millionen Euro bei Tiktok, mehr als alle demokratischen Parteien zusammen. Doch das Internet biete global auch unglaubliche Bildungschanc

zen. Das störe Autokraten, denn „Diktatoren wünschten sich keine gebildeten Untertanen“, so Michel Friedman.

Mit Blick auf Putins Angriffskrieg auf die Ukraine muss seiner Meinung nach darüber gesprochen werden, welche Stärke das Militär haben soll. „Darüber hätten wir schon 2014 nachdenken müssen, doch wir sind bei der Verteidigung sträflich infantil geblieben. Wollen wir uns schützen können? Ich plädiere für ja“, so das klare Statement des 68-jährigen Frankfurters. Wenn jemand heute sage, alles sei schwierig, doch es werde schon vorübergehen, „dann sind das Träume aus dem Schlaraffenland, in dem Menschen Angst vor einer neuen Zeit haben“, wie Friedman in seinem jüngsten Buch schreibt. Was bedeutet die Kirche den Menschen heute noch?

Friedman spricht vor den versammelten Pfarrerinnen und Pfarrern Klartext und bezieht sich auf die aktuellen Negativ-Schlagzeilen. Vor dem Hintergrund des Berichtes des „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ sagt er klar, warum derzeit viele Menschen das Vertrauen zur Kirche verloren haben: „Wenn die, die sonntags predigen, montags bei Kindern rumfummeln und die da oben das decken, willst du mit denen nichts mehr zu tun haben.“

Friedman bezeichnet es als Grundproblem des Glaubens, dass die letzte Frage nach dem Warum nicht beantwortet werden kann. „Das weiß nur Gott – das ist für aufgeklärte Seelen schwierig, das muss man aushalten.“ Friedmans Credo passt zur Lebenswirklichkeit von Pfarrerinnen und Pfarrern, denn sie kennen die Menschen gut.

„Wir laufen den ganzen Tag herum und reden mit Menschen“, so Dr. Friedericke Erichsen-Wendt, bei der Evangelischen Kirche in Deutschland zuständig für Strategische Planung und Wissensmanagement. Ihre Analyse des Status Quo ist ernüchternd: „Kirche ist eine Organisation unter vielen, die an Relevanz verloren hat. Eine Erzählung, die uns lange Zeit getragen hat, zählt nicht mehr“.

Dr. Friedericke Erichsen-Wendt plädiert für die Methode der Micro Habits, bei der die Summe kleiner Schritte auf Dauer zu bemerkenswerten Veränderungen führen könne. „Schöne Gottesdienste reichen nicht. Wir müssen einfach mal was tun. Machen Sie es anders, denn so kommt Wandel in die Welt“, ruft sie den Pfarrerinnen und Pfarrern zu.

Wer Veränderungen will, muss nach Ansicht von Dr. Eberhard Pausch zunächst das Loslassen lernen. Die Zeit der vertrauten Strukturen, der bewährten Traditionen und der sicheren Privilegien gehe zu Ende. Dem ehemaligen Studienleiter Religion und Politik an der Evangelischen Akademie ist ein selbstbestimmtes Loslassen wichtig. „Wir müssen mitentscheiden, wofür wir nicht mehr zuständig sein wollen.

Wenn wir damit auch administrative Aufgaben und Berge bürokratischen Ballasts loswerden, kann das Loslassen ein Gewinn für uns sein“, prophezeit Pausch und fordert eine klare Kommunikation der Aufgabenabgrenzung nach innen und außen.

Der Studienleiter rückt die Pfarrpersonen in den Fokus. Auf sie und ihre spezifischen Kompetenzen komme es an. Die meisten Menschen in der Gemeinde bauen nach Ansicht von Eberhard Pausch Vertrauen zu den Pfarrpersonen auf. „Wer mit einer Pfarrperson eng verbunden ist, hält seiner Kirche gewöhnlich eher die Treue“, so seine Erfahrung.

Schrumpfende Systeme sollten sich nicht immer weiter ausdifferenzieren, sondern sich auf das Wesentliche konzentrieren. Er hält die Pflege und Feier von Gottesdiensten, aus denen der christliche Glaube lebt und durch die die „Kommunikation des Evangeliums“ geschieht, für essentiell.

Lesen Sie den ganzen Text im Magazin 02/24