
Besser Sie verursachen einen Skandal um Gott, als dass die Wahrheit zu kurz kommt.
Diese Mahnung meines einstigen Propstes Heinrich Nikolaus Caspary zu Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit kam mir wieder in den Sinn. Mehr denn je verschwinden Menschen und werden verhaftet, meist gefoltert und getötet. Weltweit. Weil sie den Mut haben, um der Menschenwürde willen zu widersprechen.
Ich denke an Boualem Sansal, den algerischen Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Er wurde vor Kurzem bei seiner Ankunft in Algier verhaftet und verschleppt. Bei Jeremia, dem unbequemen Propheten, habe ich diese Haltung wiederentdeckt, selten geworden und doch ansteckend: eine ungebrochene Wahrheitsliebe um der Menschen willen – dem Königshof ein Skandal. Also mache ich einen Versuch mitzugehen. Kein Spaziergang, wie sich ahnen lässt.
Jeremia ist Abkömmling einer Familie von Geistlichen in Juda, aus der Nähe von Jerusalem. Er riss sich nicht um das Prophetenamt, hielt sich für zu jung und für einen untauglichen Prediger. Aber nachdem er berufen wurde, hat er sich nicht gedrückt. Er prangert die Verlogenheit vor allem der Mächtigen im Volk an. Dazu die Friede-Freude-Eierkuchen-Ideologie der feinen Gesellschaft mit ihren Heilsbeschwichtigungen, die selbst den größten Mist schönredet. Das Unrecht hatte sich in den Strukturen eingenistet, und es fing oben an. Mit dem Mäntelchen der offiziellen Religion wurde es zugedeckt. Schließlich wird Jeremia in die Zisterne geworfen, weil er das Unheil ansagt und, so meinten die Machthaber, das Volk samt Armee demoralisierte. Erst wurde er als Spion und Verräter gegen die Besatzungsmacht gefangen genommen und ausgepeitscht. Dann eingekerkert mit den Worten, er müsse hingerichtet werden, weil er Soldaten und Volk den Mut nehme. Am Schluss warfen sie den unbequemen Mahner in den unterirdischen Folterkeller, sie ließen ihn an Stricken hinunter. Keine Überlebenschance: unten kein Wasser, nur tiefer Schlamm. Jeremia sank immer tiefer.
Was dann geschieht, ist überraschend und unglaublich, mutig und menschlich zugleich. Einer fasst den Mut, der Willkür der Mächtigen zu widerstehen. Das verändert alles. Ebed-Melech, ein Afrikaner und Finanzminister im Palast des Königs, erfuhr, dass Jeremia in die Zisterne geworfen wurde. Er ging zum König, zeigte das Unrecht an und überzeugte ihn, Jeremia retten zu lassen. Mit Herz und Hand organisierte er die Hilfsaktion mit einer Gruppe von Gleichgesinnten. Mit Fantasie und einfachen Mitteln, aus Lumpen gebundenen Stricken, holten sie den ganz unten im Schlamm Ausharrenden wieder ans Licht.
Ebed-Melech, wohl aus Äthiopien, wird zum Inbegriff der Gratwanderung zwischen Machtstrukturen und Widerstand, zwischen König und Protest. Ein Kämmerer mit Charakter, der sich der herrschenden Clique nicht bedingungslos ausliefert. Ebed-Melech gibt den Stummgemachten eine Stimme. Die Führungsschicht war gespalten, die Kampfes-, Sieges- und Heilsparolen zogen nicht mehr. Selbst die Mächtigen kamen ins Grübeln.
Ebed-Melech ist einer, der sich querstellt und mit Rückgrat handelt. Er verfügt über den klaren Blick für Menschlichkeit und Recht. Den hat er auch in seinem Job nicht verloren. Wie ein roter Faden, der Ebed-Melech und Jeremia verbindet, ist es die Mitleidenschaft, das Maß des Menschlichen, das Hoffnung atmet. Ebed-Melech handelt unter den Bedingungen der Welt und ihrer Herrscher, aber lässt sich davon nicht aufsaugen. Er ist parteilich für Menschen und Gerechtigkeit und wagt den Widerspruch.
Wer Stimme der Stummen sein will, muss die Stimmgewaltigen umstimmen wollen, wo sie Menschen mundtot machen oder ausschließen. Am Schluss nicht nur reden, sondern handeln für die im Schlamm – mit engagierten Leuten, die zupacken.
Falls noch Änderungen gewünscht sind, lass es mich wissen! 😊