Ein Jahr Krieg in der Ukraine
„Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. […] Man wird weder Bosheit noch
Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt.“ Eine wunderbare Vision des Propheten Jesaja! Wo sie erklingt, zeichnet sie ein Bild der Hoffnung
vor unsere Augen. Wenn der Wolf beim Lamm wohnt, dann ist der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf (Hobbes), und die „Wolfszeit“ ist vorbei.
Aber leider hat am 24. Februar 2022 mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine eine neue Saison der Wölfe begonnen! Seitdem herrscht in Europa wieder Krieg, unschuldige Menschen sterben, Bomben fallen, Gräueltaten werden verübt. Diese Welt ist kein Streichelzoo, das steht fest. Es ist der Irrtum radikaler Pazifist:innen, dies zu meinen – sie datieren Jesajas Vision einfach vor. Das kann nicht hinhauen. Gegen einen Hitler, gegen einen Stalin, gegen einen Putin (meistens sind es ja die Männer, die Kriege anzetteln!) kommen
Lämmer inmitten der Wolfszeit nun einmal nicht an. Aber was hilft dann?
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine wird in unserem Land heftig darüber gestritten, wie dem Gewaltregime Putins begegnet werden kann. Auch die regierende „Ampel-Koalition“ streitet sich. Einstmals grüne Pazifist:innen würden am liebsten auf Panzern nach Charkiw reiten. Und ein ganzer „Zoo von Waffen“ wird gefordert und aktiviert, um den Schrecken einzuhegen:
Drohnen, also hochtechnisierte Wildbienen mit mörderischen Fähigkeiten, sollen den Luftraum erobern, und auf dem Lande sollen Marder und Leoparden Putin stoppen. Dessen Armee hat sogar „Kampf-Delphine“ im Einsatz. Ich stelle sie mir gerade vor, lauter kleine „Flippers“, mit Maschinengewehren bewaffnet. Es ist geradezu beruhigend, dass nicht auch noch an die Lieferung von Löwen, Stinktieren und Dinosauriern gedacht wird.
Aber wer politisch „auf der Höhe“ sein will, der muss sich heute in diese „Neue Brehmsche Tierlehre“ einarbeiten. Ist das also die richtige Antwort auf die reale Bedrohung aus dem Osten?
Die evangelische Friedensethik und Friedensforschung sind sich auch mit Bezug auf die Charta
der Vereinten Nationen (Artikel 51: Selbstverteidigungsrecht) weitgehend einig: Der Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland ist der exemplarische Fall einer „ultima ratio“ (Anwendung militärischer Gewalt als äußerste Möglichkeit). Die Lieferung von Waffen an die Ukraine ist friedensethisch daher zumindest zulässig.
Insoweit besteht eine breite Übereinstimmung im Blick auf die bedrohliche Weltlage, in der wir uns (erst recht) seit dem Februar 2022 befinden.
Ein weiterer Konsenspunkt lautet: Es darf keine Eskalation dieses Konfl ikts geben. Der Einsatz von Atomwaffen durch Russland würde zu einer Katastrophe globalen Ausmaßes führen. Daher hat selbst die autoritäre Regierung Chinas vor einem solchen Schritt gewarnt. Die vom Bundeskanzler mit Bedacht gewählte Formel:
„Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren. Und Russland darf ihn nicht gewinnen“ hat vor diesem Hintergrund durchaus Plausibilität. Der Kanzler will den Konfl ikt eindämmen, und die Chance der Beendigung setzt ein breites Fenster politischer Handlungsoptionen voraus. Wer dagegen ausschließlich auf die militärische Niederlage Russlands setzt, der schließt die Möglichkeit einer Verhandlungslösung von vorne herein aus.
Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
Jesaja 2,1ff
Darauf hat Jürgen Habermas in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ ein Jahr nach Kriegsbeginn sehr deutlich hingewiesen. Denn: Können Kriege in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts überhaupt zu eindeutigen Siegern und Verlierern führen? Beispiele wie Vietnam, Afghanistan oder Mali lassen daran zweifeln. Selbst klare militärische Überlegenheit garantiert keinen Sieg für eine der beiden Seiten.
Vielleicht ist die bittere Wahrheit vielmehr: Kriege im 21. Jahrhundert kennen weder Sieger noch Verlierer.
Sie sind vielmehr ökologische und humanitäre Katastrophen. Am Ende verlieren alle dabei.
Die Raubtiere toben sich aus, kämpfen um ihre Reviere und fressen einander erbarmungslos auf.
Was bleibt, sind der Tod, die Vernichtung, das Grauen. Schon Carl von Clausewitz wusste: Der Krieg ist „… nichts als gegenseitige Vernichtung“. Welche Lehren könnte die evangelische Friedensethik daraus ziehen? Vielleicht die folgenden
Niemand sollte zurückgehen wollen zur Auffassung, es gebe „gerechte Kriege“ –
vom Bellizismus ganz zu schweigen. Stattdessen muss die Herstellung eines mit Recht und
Gerechtigkeit verbundenen Friedens („gerechter Friede“) die Zielperspektive sein.
Niemand sollte Kriege „heilig“ nennen.
Das gilt auch dann, wenn man sie semantisch als „Spezialoperationen“ tarnt. Hierüber muss
mit der russisch-orthodoxen Kirche ernsthaft gestritten werden.
Niemand sollte die Realität des Bösen und „der“ Bösen unterschätzen.
Es war höchst naiv, Putin für einen am Frieden interessierten Politiker zu halten. In der Welt
gibt es autoritäre Regime und Politiker:innen – nicht wenige von ihnen gehen über Leichen.
Niemand sollte die eigene Nation über andere Nationen setzen.
Nationalismus ist die Urzelle des Krieges. Stattdessen brauchen wir ein ökumenisches, internationales,
globales Verantwortungsbewusstsein.
Niemand sollte die Dramatik des Klimawandels unterschätzen.
Dieser Herausforderung zu begegnen, ist die eigentliche Aufgabe unserer Zeit. Sie stellt
sich für alle Staaten und Völker dieser Erde. Und sie kann nur gemeinsam bewältigt werden. Entweder wir werden alle gewinnen oder alle verlieren. Das sollten selbst Tyrannen einsehen können
Unsere Welt ist weder ein Streichelzoo noch ein Areal frei lebender Raubtiere. Als Christ:innen
müssen wir dazu beitragen, die Raubtierzeit zu beenden. Denn die Wahrheit liegt zwischen
Pazifi smus und Bellizismus. Sie beginnt dort, wo der Egoismus einzelner Staaten endet
und ein gerechter Friede für diese Welt am Horizont aufscheint.
Dr. Eberhard Pausch
Studienleiter für
Religion & Politik
Evangelische Akademie
Frankfurt