Bürgerräte –

interessant auch für die Kirche?

H.v.V.: Bürgerräte sind zufallsbasiert durch Auslosen zusammengesetzt, zwischen 40 und 200 Bürger und Bürgerinnen, die sich einem Thema widmen. Ist das eine zutreffende Definition?

H.-P.M.: Ja, so ungefähr kommt es hin. Jedenfalls in der aktuellen Debatte. An sich verbergen sich viele unterschiedliche Varianten unter dem Oberbegriff „Bürgerrat“, sie unterscheiden sich in Größe, Ziel und Zusammensetzung oder auch dem Ablauf.

Ich wundere mich, dass eine Idee, die in den 90er Jahren unter „Planungszelle“ gelaufen ist, damals recht bekannt und auch erprobt, dazwischen offenbar in Vergessenheit geraten war und jetzt wieder aufgetaucht ist. Haben Sie eine Erklärung?

Ich glaube einfach, die Zeit ist jetzt reif. Wir erkennen zunehmend, dass wir die großen gesellschaftlichen Probleme nur im Miteinander der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche erörtern und dadurch lösen können. Deswegen ist die Politik jetzt auf den Bürgerrat als eines von vielen anderen möglichen Modellen gekommen.

Ist die Kluft zwischen Bürgern und Politik möglicherweise größer geworden und muss man etwas tun, um das Vertrauen wechselseitig wiederherzustellen?

Ja, gegenseitiges Vertrauen ist ein großes Thema. Es muss zwischen den Wahlen Möglichkeiten geben, der Politik zu spiegeln, was ihre Wählerschaft zu bestimmten Themen wirklich denkt. Dafür sind Umfragen wenig geeignet,

aber Bürgerräte schon eher, weil hier gemeinsam diskutiert wird und Lösungsvorschläge erarbeitet werden.

Es gibt Einwände gegenüber Bürgerräten: Anhänger einer repräsentativen Demokratie fürchten, dass diese Schaden nimmt. Was sagen Sie dazu?

Das kann man eigentlich nur behaupten, wenn man nicht weiß, was ein Bürgerrat ist. Bürgerräte treffen ja keine Entscheidung, sie nehmen keinem Parlament irgendeine Entscheidung ab. Sie sind eher eine spezifische und besonders effiziente Art der Anhörung. Warum aber in aller Welt sollten sich Politikerinnen und Politiker dagegen sperren, ihrer Wählerschaft zwischen Wahlen zuzuhören? Ist das die Einstellung „Lasst mich in Ruhe, ich will machen was ich will“? Das wäre ein merkwürdiges Verständnis von Repräsentation.

Und wenn die Bürgerräte bei ihren Beratungen zu ganz anderen Ergebnissen kommen als Politik, Verwaltung und Lobbygruppen?

Dann müssen die halt damit leben können. Aber das eigentliche Problem liegt woanders.

Bei den meisten Themen lassen sich grob geschätzt 80% der sogenannten Konflikte leicht auflösen, wenn man die Leute, also Wählerinnen und Wähler, miteinander reden lässt. Das Problem ist oft, dass Lobbygruppen auf die verbleibenden 20% fixiert sind, weil sie irgendwelchen eigenen Interessen entsprechen. Dann versuchen sie, den gesamten Entscheidungsprozess zu blockieren. Ein Bürgerrat dagegen konzentriert sich auf das, was Konsens ist und könnte der Politik helfen, wenigstens mal diese 80% anzugehen statt auf die 100%ige Lösung zu warten.

Auf der Homepage „Bürgerrat.de“ sind an die 100 Einzelfälle allein auf lokaler Ebene aufgeführt, die laufen oder abgeschlossen sind. Es bewegt sich also etwas, aber Sie plädieren dafür, dass noch sehr viel breiter angesetzt werden sollte.

Guter Klimaschutz ist ein Beispiel dafür, dass es sachlich gar nicht anders geht als auf diesem Weg der Bürgereinbeziehung. Klimaneutralität bis 2035 kann man nicht von oben verordnen. In unserer modernen Gesellschaft geht das schon gar nicht. Der Staat braucht auf allen seinen Ebenen die Akzeptanz und die Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern und Zivilgesellschaft. Ja, und deshalb plädiere ich für eine flächendeckende Ausweitung von Bürgerräten oder Bürgerbeteiligung.

Damit sind wir beim Bürgernetzwerk (www.buergernetzwerk.de).

Ja, denn das Bürgernetzwerk ist ein Angebot an alle, denen es um die Lösung gesellschaftlicher Probleme geht – um ein fruchtbares Miteinander von Politik, Verwaltung, Bürger und Zivilgesellschaft. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wählen die Themen selbst. Das reicht von Klimaschutz, über Innenstadtentwicklung, generationenübergreifenden Wohnkonzepten und Nachbarschaftshilfe, bis hin zu Digitalisierung für Senioren und im ländlichen Raum, um nur eine Auswahl zu benennen. Das Bürgernetzwerk ist keine Bürgerinitiative für eines dieser Themen, sondern das Dach, unter dem sich Interessierte an einer Problemlösung zusammenfinden können.

Also ist der Bürgerrat nun der „Stein der Weisen“ oder nicht?

Bürgerräte sind ein Schritt in die richtige Richtung aber nicht der Stein der Weisen. Insbesondere aus folgenden drei Gründen sehe ich Nachbesserungsbedarf: Erstens macht dieser Fetisch Repräsentativität, also das zufällige Auslosen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die ganze Sache sehr komplex, teuer und aufwändig. Der zweite Punkt ist das Problem, dass nach der Beratung die Bürgerräte einfach auseinanderfallen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich nicht mehr sehen und sich nicht mehr zusammen für die Umsetzung ihrer Ergebnisse einsetzen können. Drittens ist die Vorgabe des Themas oft kritisch: es kann sehr eng vorgegeben werden und die Moderation muss dann vieles von dem ausklammern, was aber ein Anliegen der Bürgerinnen und Bürger sein könnte.

ger ist und eigentlich auch zum Thema dazu gehört. Ein Beispiel: Ein Bürgermeister setzt einen Bürgerrat zum Thema Gestaltung des Marktplatzes ein. Aber die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind sich einig, dass das viel zu kurz gegriffen ist und man stattdessen über die gesamte Innenstadtentwicklung reden muss – was natürlich auch Sinn macht. Diese drei Punkte sind wesentliche Schwächen im Konstrukt Bürgerräte – jedenfalls wie sie derzeit zumeist konzipiert werden.

Was ist für Sie der entscheidende Vorzug dieser Entwicklung zu mehr Bürgerbeteiligung?
Wir brauchen andere Formen des Zuhörens und der Vergewisserung, was eigentlich in der Gesellschaft gedacht wird. Die Politik sollte eigentlich total dankbar sein, weil sie einen wunderbaren Spiegel kriegt. Fast immer werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr konstruktiv und arbeiten gerne auch an der Umsetzung der erarbeiteten Lösungen mit.

Kommen wir zur Frage, wer eigentlich Bürgerräte initiieren kann. Bisher haben wir nur von staatlichen Stellen gesprochen. An anderer Stelle haben Sie ausgeführt, dass auch Servicegesellschaften wie Rotary, Kirchen oder Verbände diese Funktion haben könnten. Wie stellen Sie sich das vor?
Warum sollen denn nur staatliche Institutionen die einzigen sein können, die Bürgerräte anstoßen und begleiten? Würde es nicht guter deutscher Ordnungspolitik entsprechen, wenn

, der Staat kann diese Aufgabe delegieren und es könnte sogar Wettbewerb entstehen, um das Instrument Bürgerrat besser, effizienter und wirksamer einzusetzen. Institutionen wie Serviceclubs wie Rotary, Kirchengemeinden oder Verbände könnten ebenfalls Bürgerräte initiieren und die Bürgerschaft einladen, gemeinsam gesellschaftliche Probleme anzugehen. Natürlich sollten auch Politik und Verwaltung einbezogen werden, da es letztendlich um Kooperation geht.

Ja, das Instrument könnte auch innerorganisatorisch eingesetzt werden, beispielsweise als Ergänzung zu den bestehenden Gremien. Organisationen, einschließlich Unternehmen, haben ähnliche Verfahren erprobt, um Probleme wie fehlende Koordination und Versäulung in großen Institutionen anzugehen. Diese Verfahren können dazu beitragen, die Basis der Organisation einzubeziehen und eine bessere Zusammenarbeit zu fördern. Man könnte sie unter einem anderen Namen verwenden, wenn dies in den internen Strukturen der Organisation besser passt.