Wie unsere Kirche wieder gewinnen kann

Die Kirche verliert. Dramatisch und unaufhaltsam: Mitglieder, Geld, Strukturen, Macht und Einfluss, Mitarbeitende, Sichtbarkeit, Glaubwürdigkeit und vor allem Relevanz. Die Zahlen sind erschreckend. Sicher nicht nur für gläubige Christinnen und Christen wie mich. Allein im vergangenen Jahr verließen in Deutschland mehr als 520.000 Menschen die katholische, immer noch 380.000 die evangelische Kirche. Seit 1990 haben die christlichen Kirchen fast 17 Millionen Gläubige durch Austritt oder Tod verloren. Erstmals seit dem frühen Mittelalter sind inzwischen weniger als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung Mitglied einer christlichen Kirche.

Sogar in meiner nordhessischen Heimat mit einer traditionell prägenden und wirkmächtigen evangelischen Kirche wird man die Kirche nicht mehr im Dorf belassen können. Pfarrstellen werden abgebaut. Der Rückzug aus der Fläche ist unausweichlich. In einer nach Halt und Orientierung suchenden Gesellschaft fällt Kirche als Anker immer öfter aus.

Manche engagierte Christinnen und Christen dürften meinen nüchternen Befund als verletzend und anklagend empfinden. Leider fühlen sich auch in den Kirchen zumeist die Falschen angesprochen. Nach wie vor gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, die unerschrocken Zuversicht ausstrahlen, und es gibt leidenschaftlich engagierte Gemeindemitglieder, selbstverständlich auch bei mir zu Hause.

Aber Kirche droht ihr eigenes Überleben immer weniger gestalten zu wollen. Sie verkämpft sich lieber, wirkt notorisch verschnupft, sieht sich als Opfer eines ignoranten Säkularismus und erwartet vom Staat bockbeinig Loyalität. Wofür eigentlich? Warum sind die Kirchen im Bewusstsein und Ansehen zu vieler Menschen so tief gefallen? Einige sehr subjektive Erklärungsversuche.

Die Missbräuche insbesondere von Kindern und Jugendlichen durch Repräsentanten der Kirchen sind keine Einzelfälle, sondern systemimmanent. Der Umgang der katholischen Kirche mit dem Unrecht hat die Sache nur noch verschlimmert: Entsetzliche Straftaten an Körper und Seele von Schutzbefohlenen wurden vertuscht, verharmlost, verneint. Vom Gemeindepriester über Bischöfe bis zum Papst. Die drei Affen, die sich in der Unart des Weghörens, Wegsehens und Schweigens üben, sind nichts gegen den katholischen Klerus.

Auch in der evangelischen Kirche haben sich Menschen schwer versündigt. Aber anstatt mit schonungsloser Aufklärung Maßstäbe zu setzen und sich klar und deutlich von den katholischen Brüdern zu distanzieren, gingen und gehen Verantwortliche der EKD eher nachsichtig mit der katholischen Kirche um.

Der sogenannte „Synodale Weg“, der, konsequent zu Ende gedacht, zur faktischen Abschaffung des Katholizismus führte, wurde von evangelischen Christinnen und Christen eben nicht genug dazu genutzt, auf ein sehr schlichtes Faktum hinzuweisen: die an Haupt und Gliedern reformierte, auf Gleichberechtigung und Gleichstellung, Teilhabe und Vielfalt fußende Kirche, die sich von der Allmacht des Papstes löst, gibt es seit 1517 in Form des gelebten, dezidiert nicht fehlerlosen Protestantismus.

Ich bin mir sicher, einige engagierte Christinnen und Christen hätte man vom Austritt aus der (katholischen) Kirche abhalten oder zumindest vom Übertritt zur evangelischen Kirche überzeugen können. Eine vertane Chance der EKD, die nichts mit Entsolidarisierung unter Brüdern und Schwestern, sondern viel mit (un)versöhnter Verschiedenheit der Konfessionen zu tun hat.

Die Pandemie hat unsere Gesellschaft weit über das erträgliche Maß hinaus verwundet und durchgeschüttelt. Die Kirchen als Gemeinschaft der Heiligen und Gläubigen fanden keine probaten Mittel gegen das einsame Hinsiechen und Sterben in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern oder Wohnungen. Selbstverständlich standen die Kirchen und ihre Verantwortlichen loyal zu den staatlichen Regeln, um das Ausbreiten von Krankheit und Tod einzuhegen.

Aber zu oft blieb es dabei. Gelebte Zeichen der Hoffnung und Zuversicht blieben häufig aus. Kirchen waren im besten Falle orientierungslos, im schlimmsten Falle sprach- und empathielos. Wo war das Bodenpersonal eines gnädigen, mitfühlenden Gottes?

Anstatt die Idee des gerechten Friedens in Zeiten eines grausamen Angriffskriegs in unserer europäischen Nachbarschaft

Autor: Michael Roth ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2004 Mitglied der
Landessynode der Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck